MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
24. Juni 2024
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Es gibt nur wenige Werke, die ausserhalb der Klassik-Community einen respektablen Bekanntheitsgrad haben. Zu den omnipräsenten Dauerbrennern gehören auch die vier ersten der zwölf Concerti Op.8 von Antonio Vivaldi (1678–1741), veröffentlicht als Sammlung mit dem Titel «Il cimento dell armonia e dell inventione» (Das Wagnis von Harmonie und Erfindung).

Die vier Concerti tragen die Titel «Frühling», «Sommer», «Herbst» und «Winter». Sie sind Programmmusik, also keine abstrakten Musikstücke. Programmmusik will reale Stimmungen, menschliche Handlungen und Emotionen (Berlioz, «Symphonie Fantastique»), Natureindrücke, ein romantisiertes Landleben (Beethoven, 6. Symphonie «Pastorale») oder kulturelle, gar technische Errungenschaften tonal umsetzen (Mussorgsky, «Bilder einer Ausstellung», Honegger «Pacific 231»).

Ein breites Publikum

Vivaldis 12 Concerti Op. 8 sind allesamt Violinkonzerte, breiter bekannt sind die vier Ersten (RV293, RV297, RV269, RV315), die den jahreszeitlichen Verlauf der Natur und die Auswirkungen auf das menschliche Leben musikalisch beschreiben. Zu klassischer Musik finden viele Musikliebhaber keinen Zugang. Sei es, dass die Werke zu komplex, zu wenig eingänglich sind, oder durch ihre ungewohnte Länge zu viel Konzentration und Durchhaltevermögen abverlangen. In der Regel kann man auch keinem Text folgen. Da hilft Programmmusik, da man nun das Kopfkino anwerfen kann. Man kriegt einen roten Faden. Hilfreich ist auch, dass die einzelnen Sätze der vier Vivaldi-Konzerte eine Spielzeit rund vier Minuten haben, was der Dauer eines Pop-Songs entspricht.

Woher kommt der Jahreszeiten-Erfolg?

Vivaldis Jahreszeiten-Konzerte erfüllen gleich mehrere Aspekte, um in offenen Ohren eines breiteren Publikums anzukommen und ein Ausbrechen aus dem Gatter der Klassikdomäne begünstigen: fantasievolle kompositorische Wendungen und Effekte, eingängliche Melodien, abwechslungsreiche Harmonien und Rhythmen.
Und dazu kommt Vivaldis enormer Einfallsreichtum und Kompositionen, die ein virtuoses Spiel ermöglichen. Ein technisch und interpretatorisch herausragender Spieler kann so die Zuhörer in den Bann ziehen – auch nicht mit klassischer Musik vertraute Hörer.

Es gibt von allem genug

Die Masse der bereits erhältlichen Einspielungen der «Vier Jahreszeiten» ist enorm. Doch die Kreativität und das spielerische Können liegen weit auseinander. Auch wandelt sich die interpretatorische Auffassung über die Zeit, historisch orientierte Spielweisen hielten Einzug. Auffassungen über die Ausgestaltung (Vibrato, Tempi, Agogik) oder das Setzen von Akzenten, die Grösse des Orchesters und vieles mehr verändern sich. Selbst eine Jazz-Version des Jacques Loussier Trios (Telarc, 1997) ist erhältlich.

Die über weite Bereiche eingänglich klingenden Vivaldi Concerti verlangen dennoch von den Musikern hohes Können, besonders anspruchsvoll ist der Part der Solovioline.

Wenn es schon alle Varianten und Qualitäten der «Quattro Stagioni» gibt, was kann da eine 2024 veröffentlichte Einspielung noch bieten?

Julien Chauvin et Le Concert de la Loge

Julien Chauvin, Leiter des Ensembles Le Concert de la Loge, gibt Hinweise auf die Frage in einem witzigen Video ...

Vivaldi, «Le Quattro Stagioni & La Follia» – «Falsches» Interview mit Julien Chauvin.

… und ausführlicher im Booklet zum Album:

«Wie ist es möglich, dass wir nach so vielen Jahren des Wiederkäuens, der revolutionären Visionen und wechselnder Erfolge immer noch die Kraft haben, unsere Herangehensweise zu erneuern und dabei eine persönliche Interpretation zu bewahren?

Wir haben nicht nach Extremen gestrebt, nicht nach Originalität um jeden Preis, nicht nach jenen Nuancen oder jenem Tempo, das niemand je gespielt hat, und auch nicht nach einer Edition, die alles infrage stellt. ... Wir haben mit unserer ganzen Aufrichtigkeit gespielt, mit den Emotionen, die jeder von uns in Italien und insbesondere in Venedig aufgenommen hat, und wir haben dieses Werk unzählige Male aufgeführt, sowohl im klassischen Rahmen als auch zusammen mit Kindern, Schauspielern oder Tänzern.»

Geiger und Ensemble-Leiter Julien Chauvin.Geiger und Ensemble-Leiter Julien Chauvin.

«Le Concert de la Loge Olympique» war der Name eines von 1782 bis 1789 in Paris aktiven Orchesters und ist Namensgeber für Julien Chauvins Ensemble. Nur hat ihm das IOC die Verwendung von «Olympique» verboten. Ein kleinlicher Entscheid, rechtlich fragwürdig – aber big money bestimmt.

Le Concert de la Loge: vier Jahreszeiten, acht Musiker – ein kompaktes Ensemble mit grossem Klang.Le Concert de la Loge: vier Jahreszeiten, acht Musiker – ein kompaktes Ensemble mit grossem Klang.

Die Ensemblegrösse von Le Concert de la Loge variiert, je nach Projekt. Bei dieser Vivaldi Einspielung sind es acht Musiker, bei den Haydn Alben mit den Pariser Symphonien sind es der Epoche und den Werken entsprechend knapp dreissig. Das 2015 vom Geiger Julien Chauvin gegründete Orchester ist historisch informiert und spielt auf alten Instrumenten. Dies setzt einen Kontrast zur überwiegenden Mehrheit der Aufnahmen aus den sechziger bis neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die mit damaliger Auffassung zu romantisierenden Interpretationen auf modernen Instrumenten und grösseren Orchestern neigen.

Die Interpretation im Vergleich

Was es schon gibt: viele einfach nach den Noten abgespielte Aufnahmen, gute Handwerks-Arbeit, aber nicht mehr. Dann gibt es die Alben mit Künstlern der alten Garde (Triple-A-Klasse) wie Anne Sophie Mutter, Herbert von Karajan und den Wiener Philharmonikern oder mit Itzhak Perlman. Dann die jungen Wilden wie Nigel Kennedy. Viele Aufnahmen aus dem 21. Jahrhundert mit guter Aufnahmetechnik, virtuoser Spielweise, teilweise historisch informiert, mit durchdachten (Rachel Podger, Brecon Baroque) oder eigenwilligen Interpretationen (Shunske Sato, Concerto Köln).

Und es gibt Chauvin mit kleiner Besetzung. Die nur sechs Hauptinstrumente (3 Violinen, 1 Bratsche, 1 Violoncello, 1 Kontrabass) der «Le Concert de la Loge»-Aufnahme erzeugen eine erstaunliche Klangfülle. Was zeichnet nun diese Einspielung aus, ist sie eine Bereicherung des bestehenden Repertoires?

Die «Vier Jahreszeiten» hat Chauvins Ensemble schon oft in Konzerten gespielt. Die Vivaldi Concerti hat man spieltechnisch im Griff. Man kann sich nun um Feinheiten kümmern, Nuancen erarbeiten und durch subtile Veränderungen eine eigene Klangästhetik schaffen.

Dies gelingt dem Ensemble bestens. Herausragend ist auch die Balance der Stimmen, begünstigt durch die kammermusikalisch kleine Besetzung. Man hört die unteren Stimmlagen – Primus ist ja die Solovioline – deutlich heraus, kann so leicht auch den kontrapunktischen Linien folgen. Bestechend sind die dynamischen Akzente und Tempovariationen (Rubato), die das Ensemble klug setzt und gekonnt untereinander abstimmt. Bei so wenigen Instrumenten lassen sich kleine Fehler im Zusammenspiel nicht in einer Klangwolke kaschieren.

Vivaldi, Winter 3. Satz Allegro. Von Smalin visualisiert sind die kompositorischen Linien leichter erkennbar.

Drei Interpretationen, drei unterschiedliche Klangkörper

Der dritte Satz des Primavera Concerto RV269 (Frühling) mit der Satzbezeichnung «Allegro – Danza Pastorale» stellt einen Tanz von Nymphen und Schäfer dar. Ein Satz, der viel zur Beleibtheit dieser Concerti beiträgt. Er vermittelt eine fröhliche Stimmung, tänzerische Rhythmen getragen von Ostinato-Bässen. Betrachten wir diesen Satz in drei verschiedenen Aufnahmen.

I Julien Chauvin, Le Concert de la Loge (Alpha Classics, 2024).I Julien Chauvin, Le Concert de la Loge (Alpha Classics, 2024).

Chauvin schlägt ein zügiges Tempo an, trifft den Tanzcharakter des Satzes sehr gut. Beeindruckend ist, wie fein der Satz mit Tempo und Dynamikänderungen ausgestaltet ist. Violinen können giftig klingen, bedingt durch das Instrument, die Spielweise oder Aufnahmetechnik. Nicht bei dieser Aufnahme: die Streicher klingen obertonreich, aber nicht aggressiv, mit einem eher dunkleren Timbre. Chauvin liefert feinsten Streicherklang mit schönen Wechseln zwischen gebundenen und ungebundenen Noten. Die Stimmen sind klar im Raum positioniert. Die Solo-Tutti-Kontraste sind deutlich ausgearbeitet, aber dennoch nicht effekthascherisch. Als Basso Continuo kommen neben dem Cembalo auch eine Barockgitarre und eine Theorbe zum Einsatz.

II Rachel Podger, Brecon Baroque (Channel Classics, 2018).II Rachel Podger, Brecon Baroque (Channel Classics, 2018).

Podger ist Stammsolistin bei Channel Classics, einem Label mit audiophilem Anspruch, das absolut vom DSD-Format überzeugt ist. Podgers Tempo ist nahezu gleich wie bei Chauvin, auch die Ensemblegrösse. Auffallend ist der seidene Klang von Solovioline und Ensemble – was aber nichts mit dem DSD-Format zu tun hat.

Podger setzt weniger stark auf Dynamik- und Tempoakzente, sucht vielmehr ein eher homogenes Klangbild mit sanften Übergängen. Die einzelnen Stimmen sind dadurch etwas weniger transparent, aber dennoch deutlich ortbar. Eine insgesamt kleinere Raumabbildung rundet den Klangeindruck ab. Als Basso Continuo kommen ein Cembalo und eine Kammerorgel zum Einsatz.

III Anne-Sophie Mutter, Herbert von Karajan, Wiener Philharmoniker (EMI, Warner, 1984).III Anne-Sophie Mutter, Herbert von Karajan, Wiener Philharmoniker (EMI, Warner, 1984).

Anstelle von 6 Streichern wie bei Chauvin und Podger kommen hier 23 Streicher zum Einsatz – entsprechend der Auffassung der damaligen Zeit. Auch das Tempo ist erheblich langsamer, fast schleppend. Es werden deutlich weniger Dynamik- und Tempoakzente gesetzt. Einziger starker Kontrast ist die mit Piano bezeichnete Passage zwischen Minute 2:20 und 2:45 (Takt 48ff), die sehr leise (ppp) gespielt wird. Betörend schön sind die Passagen mit Solovioline und Cello. Hier lässt sich dem langsamen Tempo durchaus was abgewinnen. Insgesamt ergibt sich ein eher helles Klangbild, entsprechend der in den 80er-Jahren vorherrschenden eher romantisierenden Spielweise, was sich auch am dezent eingesetzten Vibrato zeigt. Ziel ist, die Solovioline als Kontrast zum Klangteppich des Orchesters zu positionieren.

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