Jazzpianisten gibt es viele. Einige von ihnen sind ausgezeichnete Begleiter, die das Beste aus Solisten herausholen, sich jedoch meist eher im Hintergrund aufhalten.
Andere sind hervorragende Solisten, entwickelten ihren eigenen Stil, sind schon nach wenigen Takten erkennbar und brillieren durch ihre eigene Improvisationskunst. Einige wenige sind Multitalente, die in allen Sparten brillieren, wie zum Beispiel Oscar Peterson. Oft vergessen beim Aufzählen aussergewöhnlicher Jazz-Klaviertalente wird Michel Petrucciani.
Michel Petrucciani (1962–1999)
Michel wurde in Orange, im Süden Frankreichs, in eine musikalische Familie mit neapolitanischen Wurzeln geboren. Sein Vater sowie seine beiden Brüder spielten Jazz-Gitarre resp. Bass.
Michel litt seit seiner Geburt unter Osteogenesis imperfecta, der Glasknochenkrankheit und war kleinwüchsig. Wegen seiner Krankheit hatte er als Kind und Teenager über 100 Knochenbrüche und litt sein ganzes Leben unter Schmerzen. Doch hatte er grosse, kraftvolle Hände.
Als Michel, damals kaum vier Jahre alt, Duke Ellington im Fernsehen sah, wollte er Pianist werden, wie der Duke. Bald darauf kaufte ihm sein Vater, der das aussergewöhnliche Talent seines Sohnes erkannt hatte, ein Klavier, auf dem der kleine Michel täglich stundenlang übte und klassischen Unterricht erhielt. Seine Musikalität äusserte sich auch darin, dass er, kaum sprechen könnend, Wes Montgomerys Soli vor sich hin summte.
Mit neun trat er zusammen mit seiner Familie auf. Sein grosses Vorbild war nun Bill Evans. Und schon mit 13 gab er sein erstes professionelles Konzert. Zu jener Zeit war er sehr zerbrechlich; so trugen ihn sein Vater oder seine Brüder zum Klavier, da er selbst nicht weit gehen konnte. Auch benötigte er Hilfen, um die Pedale bedienen zu können.

Mit seinem Freund und Schlagzeuger Aldo Romano zog er 15-jährig nach Paris, wo er noch im selben Jahr mit Kenny Clarke und im Jahr darauf am Cliousclat Jazz Festival mit Clark Terry spielte. Clark Terrys Kommentar nach dem Konzert: «He was a dwarf, but he played like a giant.» (Er war ein Zwerg, doch er spielte wie ein Riese).
Petruccianis Jahre in Paris waren «durchzogen»: Sein persönliches, teilweise clowneskes, aber auch aufbrausendes Verhalten und seine Art herumzumaulen wurden als unreif und aggressiv gewertet. Doch musikalisch war der Weg zum Star während seiner Arbeit im Kenny Clarke Trio vorgegeben.
Viele Details aus Petruccianis Leben sind ungewiss, da er seine Geschichten immer wieder änderte, viele Lügen erzählte und sich in zwielichtigen Kreisen bewegte. Mit 19 zog es ihn nach New York und mit 20 besuchte er den Saxofonisten Charles Lloyd in Kalifornien, der, nachdem er Michel spielen gehört hatte, mit ihm auf eine ausgedehnte Konzerttournee aufbrach.
Am 22. Februar 1985 marschierte Lloyd, Petrucciani in seinem Arm, auf die Bühne der Town Hall in New York City, setzte ihn auf den Klavierstuhl und eröffnete damit einen historischen Abend in der Geschichte des Jazz: Der Auftritt war Teil des Films «One Night with Blue Note». Schon der Auftritt von Petrucciani mit Lloyd am Montreux Jazz Festival drei Jahre zuvor hatte Schlagzeilen generiert. Diese beiden Ereignisse waren sozusagen der internationale Durchbruch für Petrucciani, der von da an meist in Trio-Formationen oder Solo auftrat. Auch die Mehrzahl seiner (heute erhältlichen) Alben sind so gehalten.
Michel Petrucciani hatte kein einfaches Leben, doch er machte es anscheinend auch seinen Mitmenschen nicht immer einfach. Über sein Privatleben kann man sich anderweitig informieren.
Eine Woche nach seinem 36. Geburtstag verstarb Michel Petrucciani an den Folgen einer Lungenentzündung. Er war bereits allgemein geschwächt, hatte er doch im Jahr zuvor (1998) 140 Liveauftritte weltweit absolviert.

«Jazz Club Montmartre 1988»
Nachdem Michel Petrucciani etwas in Vergessenheit geraten war, entdeckten diverse Schallplattenfirmen, dass sie mit unveröffentlichten Tonbändern und teilweise vergriffenen CDs auf aussergewöhnlichen Tonschätzen sassen. Sie begannen, diese zu restaurieren, um eine Art Memorial zu schaffen.
Die vorliegende Live-Aufnahme von 1988 mit Gary Peacock und Roy Haynes (der übrigens erst kürzlich 99-jährig verstarb) klingt denn auch überraschend gut. Montmartre suggeriert Paris, doch das Konzert fand in Kopenhagens Jazzhus Montmartre statt.
Das Zusammenspiel der drei lässt einen wundern, wie viel zuvor besprochen worden war, und wie gross der Anteil an spontaner Übereinstimmung ist. Petrucciani hatte ja nicht «sein» mehrjähriges Trio wie z.B. Oscar Peterson, sondern trat mit den unterschiedlichsten Jazzgrössen auf, auf jeder Tournee in neuer Zusammensetzung. Auch dieses Trio war 1988 nur für eine kurze Europatournee zusammengestellt worden.
Schon beim Eröffnungsstück «13th», einer Petrucciani-Komposition, in der bereits sämtliche Register gezogen werden, spielen die drei die Melodie zum Schluss überraschenderweise unisono. Nach einer weiteren, fulminanten Petrucciani-Komposition «She did it again» folgt «My funny Valentine», das eigentlich als Ballade bekannt ist. Doch MP macht daraus ein Uptempo-Feuerwerk, lässt sowohl Gary und vor allem auch Roy solieren, um nach einer kurzen Rückkehr zur Melodie die Stimmung erneut zu wechseln und eine Art Calypso anzuhängen. Doch die eigentliche Ballade folgt dann doch noch: «In A Sentimental Mood» beginnt träumerisch, doch auch hier kann es MP nicht lassen, das Tempo improvisatorisch zu verdoppeln, perfekt unterstützt von seinen Kollegen.
Für Roy-Haynes-Fans gibt es diverse längere und musikalische Soli, zum Beispiel auf «Giant Steps» und auch Gary Peacock kommt in diesem Konzert ausführlich «zu Wort». Doch über allem schwebt die Leichtigkeit von Michel Petruccianis Klavierspiel. Was für ein Genuss!
Fazit
Eine Wieder- oder Neuentdeckung von Michel Petrucciani ist ein echtes Erlebnis. Obgleich diverse Petrucciani-CDs in meiner Sammlung existieren, benötigte ich den Extraschub dieser Neuerscheinung, um wieder einmal zu realisieren, was für grossartige, ja atemberaubende Musik aus den grossen Händen dieses kleinen Mannes entstanden war.
Während dieser Bericht entstand, wurde auch das Album «Trio in Tokyo» mit Steve Gadd und Anthony Jackson als überarbeitete Version veröffentlicht, das wohl letzte Album aus seiner Konzerttournee 1998 kurz vor seinem Tod – und eine wundervolle Ergänzung zu dieser zehn Jahre älteren Aufzeichnung.