Zwei neue HiRes-Alben – beide in Flac 96/24 – haben mich aufgewühlt: Es sind die Alben "Erbarme dich" mit dem Ensemble A Nocte Temporis und seinem Chef, dem Tenor Reinoud van Mechelen, und die "Französischen Suiten" BWV 812–817, gespielt von Murray Perahia.
Der französische Musikwissenschaftler Gilles Cantagrel gibt zum erstgenannten, vom 9. bis 13. Mai 2016 in der Eglise Sainte Aurele in Strassburg aufgenommenen Album einen ganz gewiss hochfundierten Kommentar. Er lässt aber kaum erkennen, wie er sich deren Interpretation im Detail vorstellt.
Doch das Ensemble A Nocte Temporis mit seinem Leader Reinoud van Mechelen (Tenor), Anna Besson (Flöte), Benjamin Alard (Orgel) und Ronan Kernoa (Cello) weiss, wie man Bach zu spielen hat. Sein Ziel ist es, die hier sinnvoll ausgewählten Bachwerke wie Choral-Vorspiele für Orgel, Ausschnitte aus Trio-Sonaten, Rezitative und Arien nicht nur auf Kopien alter Meister-Instrumente zu spielen, sondern auch – nach neusten Erkenntnissen der Musikwissenschaftler – möglichst original zu phrasieren.
Ganz anders der Pianist und Dirigent Murray Perahia, der die Französischen Suiten nicht auf dem Cembalo, sondern auf dem Klavier, das Bach damals noch gar nicht kannte, spielt. Murray Perahia gab in einem Interview zu seiner Art, Bach zu interpretieren, Folgendes an: "Viele Kritiker und auch einige grosse Pianisten lehnten Bach auf dem Klavier strikt ab, das Cembalo kam als einziges Instrument in Betracht. Das wirkte sehr abschreckend, weswegen ich es als Herausforderung annahm. Ich befasste mich zwei Jahre lang mit dem Cembalo und versuchte, die in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse auf mein Klavierspiel zu übertragen, was aber gar nicht einfach war. Nach und nach fand ich meinen eigenen Weg, Bach auf dem Klavier zu spielen."

Beim Anhören dieser beiden Alben kommen meine alten Vorurteile gegen gewisse Auswüchse der sogenannt "authentischen Interpretation" wieder mal so richtig zum Aufleben. Dazu möchte ich jedoch bemerken, dass ich ganz und gar nicht prinzipiell gegen das authentische Spielen auf originalen Musikinstrumenten bin.
So hat ein brüllender Opern-Heldentenor oder eine Opern-Diva mit Tremolo-Vibrato-verseuchter Stimme sicher nichts in einer Bach-Kantate zu suchen. Auch hat man früher ganz gewiss auf Streichinstrumenten mit weniger Vibrato gespielt, als das heute üblich ist. Aber das Nachdrücken der Töne ist echt das einzige an der authentischen Interpretation, das (nicht nur) mich auf die Palme bringt und mir beim Anhören Bauchschmerzen bereitet ...
Versuch einer Entschuldigung
Ich gebe gerne zu, dass man bezüglich dieser Thematik absolut unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich verlasse mich dabei auf meine anerzogenen Gewohnheiten sowie auf mein Bauchgefühl, und weniger auf musikwissenschaftliche Ansichten.
So quasi als Entschuldigung für meine Vorurteile möchte ich erwähnen, dass ich in einer Musikerfamilie aufgewachsen bin, die sich damals noch kaum intensiv mit der "authentischen" Wiedergabe barocker Werke auseinandersetzte. Doch ab und zu hörte ich meinen Vater sagen, dass es höchst interessant wäre, zurückversetzt in die Vergangenheit einmal J. S. Bach live an einem Konzert zu hören. Und um herauszufinden, wie das klänge, haben Musikwissenschaftler während langer Jahre geforscht und sind teilweise zu seltsamen Erkenntnissen gekommen.
Wie ein Ton entsteht
Bei allen Zupf- und Schlaginstrumenten setzt der Ton mit einem das Instrument charakterisierenden Impuls ein und verklingt dann allmählich. So hat sich unser Klangempfinden sehr an diese Art von Klangabläufen gewöhnt und empfindet dies als "natürlich". Passiert genau das umgekehrte – wird also ein Ton mit der Zeit lauter – wirkt das eher unnatürlich. Das kann man leicht nachprüfen, wenn man eine Aufnahme rückwärts laufenlässt. Aus einem PING wird dann ein GNIP. Das klingt nun mindestens mal ganz anders als bisher und kann bestens als "Verkaufsargument" benutzt werden.
Vom "Kalb machen" zur Religion
Während meiner Ausbildung am Konservatorium Zürich genoss ich eine konventionelle Ausbildung und lernte unter anderem, was man als Musiker tunlichst vermeiden sollte. Dazu gehört das weiter oben erwähnte, rülpsende Nachdrücken der Töne, das wir als Jugendliche im Übermut zelebrierten, um einfach mal so zum Spass ganz scheusslich zu spielen und die Erwachsenen zu nerven. Hätte ich meinem Trompetenlehrer meine Konzertstudien im erwähnten Stil vorgetragen, er hätte mich augenblicklich aus der Musikstunde geworfen, wäre zu meinem Vater, ebenfalls Lehrer am Konservatorium, geeilt und hätte ihm geklagt, ich mache in der Stunde "das Kalb", nähme ihn nicht ernst, und man solle mir gefälligst Manieren beibringen. Und heute wurde aus "dem Kalb machen" eine Religion. Doch wie heisst es so schön: Die Erkenntnis von heute ist der Irrtum von morgen.
Bach authentisch?

Der Tenor Reinoud van Mechelen hat das Nachdrücken der Töne zu seinem Markenzeichen gemacht. Er singt glockenrein und technisch perfekt, sein Stil ist aber nur von Authentik-Freaks zu geniessen. Auch die Flötistin pflegt das Nachdrücken und huldigt einer depressiven, lustlosen und jammervollen Spielweise.
Irgendwie nehmen sich diese Musiker den Titel dieses Albums "Erbarme Dich" zu sehr zu Herzen. Musik sollte meiner Meinung nach nicht niederdrücken, sondern erheben. Depressiv und lustlos war Bach ganz gewiss nicht. Auch nicht bei seinem besinnlichen Werken zu hohen kirchlichen Feiertagen. So vermute ich, dass J. S. Bach, wenn er dieses Spiel gehört hätte, seine Perücke abgenommen und diese in Richtung Musiker geworfen hätte. Herrlich klingen hingegen die auf einer Silbermann-Orgel, die 2015 von Quentin Blumenröder hervorragend restauriert wurde, gespielten Orgelstücke.
Generell ist der der Klang dieser Aufnahmen zu loben. Hier herrscht eine wunderschöne Kirchenakustik mit natürlichem Nachhall. Man spürt die Grösse der Kirche und deren Schallrückwürfe. Der Tonmeister hat seine Aufgabe mit Bravour gemacht. Die Feinzeichnung und der Detailreichtum der Aufnahme ist ebenfalls zu loben. Auf eine musikalische Bewertung dieser Aufnahmen mit einer Zahl zwischen 1 und 10 werde ich, wegen offenkundiger Befangenheit, verzichten und dem Klang eine gute 9 geben.
Cembalo oder Klavier?

Es wird gemunkelt, dass Bach, hätte er die Vorzüge des anschlagsdynamischen Hammerklaviers damals schon gekannt, seine Tastenwerke nie und nimmer für das in Bezug auf Ausdrucksmöglichkeiten beschränkte Cembalo geschrieben. So darf man denn auch mehr als gespannt sein, wie dieser Stilbruch von Murray Perahia ausgeführt wird.
Das Ergebnis zieht den Hörer gleich ab den ersten paar Takten in den Bann und entführt ihn in die Bachsche Klangwelt. Das ist kein normales Konzertieren, das ist schlicht eine Offenbarung! Auch bei wiederholtem Abspielen dieses Albums wird der Abhörraum jeweils von einer Stimmung erfüllt, die unter die Haut geht und einem zutiefst berührt! Dabei spielt Perahia nicht sich selber im Stile einer Primadonna in den Vordergrund, sondern amtet lediglich als Medium, welches Bach, mindestens für eine kurze Zeit, wieder aufleben lässt.
Dank der Wiedergabe an einem Konzertflügel sind Schattierungen möglich, die mit einem Cembalo nicht möglich wären. Bei dieser Musik verstummen alle Streitereien über Authentizität, Stilbruch und so weiter. Dieses Bach-Erlebnis ist über solch unbedeutenden Diskussionen erhaben!
Und der Versuch, dieser Interpretation eine Bewertung mit Noten zu geben, scheitert deshalb, weil es für mich in unserem irdischen Zahlensystem keine passende Zahl gibt. Ein Versuch zur Benotung wäre eventuell das Markenzeichen einer US-Lautsprecherfirma, die mit ihren Servo-Static-Elektrostaten Ende der 60er-Jahre einen brillanten Auftritt hatte.
DGG audiophil
Das gelbe Signet der DGG weckt in mir keine guten Erinnerungen an den Klang, der in früheren HiFi-Zeiten von mir und etlichen anderen Audio-Freaks als alles andere als audiophil empfunden wurde. Doch hat DGG mit etlichen kürzlich erschienenen Alben bewiesen, dass sich dies grundlegend geändert hat. Ein Beispiel ist das Album "Portraits" mit Andreas Ottensamer.
Aber nun zum neusten Album von Perahia: Die im Berliner Funkhaus im Saal 1 bereits im Juli 2013 aufgenommenen, aber erst 2016 in Flac 96/24 veröffentlichten Bachwerke können klanglich voll und ganz überzeugen. Der Flügel (Marke wird nicht erwähnt) ist ein unglaublich differenziertes Instrument zur Wiedergabe feinster Empfindungen. Der Tonmeister Martin Nagorni hat den Klang mit einer natürlichen Distanz eingefangen und er erscheint sehr räumlich und von den Boxen gelöst im Abhörraum.