Über Dave Brubeck (1920–2012) gibt es viele Anekdoten. Als Sohn eines kalifornischen Viehzüchters (mit angeblich Schweizer Wurzeln) und einer englischen Konzertpianistin begann er zuerst ein Studium in Tiermedizin, wechselte dann (auf Drängen seines Zoologieprofessors) ans Konservatorium für Musik.
1942 wurde er in die Armee eingezogen und 1943 nach Europa geschifft. Nach einem Auftritt als Pianist an einer Rot-Kreuz-Veranstaltung wurde er beauftragt, eine Band zusammenzustellen, was ihn vor Kampfhandlungen bewahrte. In der Armee lernte er auch Paul Desmond kennen.
Da nach dem Krieg grössere Orchester aus finanziellen Gründen kaum mehr engagiert wurden, gründete Brubeck 1949 ein Trio, das er 1951 mit Paul Desmond zum Quartett erweiterte. Mitte der 50er-Jahre entstand dann das «berühmte» Dave Brubeck Quartet mit Paul Desmond (Altosax), dem Afroamerikaner Eugene (Gene) Wright (Bass) und Joe Morello (Schlagzeug). Brubeck sagte mehrere Konzerte und TV-Auftritte ab, bei denen die Veranstalter rassistische Vorgaben machten, die also Gene Wright nicht auftreten lassen wollten.
1959 nahm dieses Quartett «Time Out» auf, eine LP ausschliesslich mit Eigenkompositionen, die alle – «Strange Medow Lark» ausgenommen – in bisher völlig ungewohnten Metren gehalten waren. Der Welthit «Take Five» im 5/4-Takt stammt übrigens aus der Feder von Paul Desmond.
1967 trennte sich das Quartett, gab dann jedoch 1975/76 ein paar Reunion-Konzerte, teilweise mit Gerry Mulligan als Gast. Brubeck war bis kurz vor seinem Tod, einen Tag vor seinem 92. Geburtstag, musikalisch tätig, allerdings nur noch begrenzt: Seine letzte Übersee-Konzerttournee fand 2006 statt.
Paul Desmond
Der als Paul Emil Breitenfeld geborene Altsaxofonist mit dem unverkennbaren Klang (in seinen Worten «like a dry Martini») war nicht nur der Komponist des oben erwähnten «Take Five», sondern hinterliess neben diversen weiteren Kompositionen auch unzählige, wunderschöne, improvisierte Melodielinien auf Aufnahmen mit dem Dave Brubeck Quartet, aber auch mit Jim Hall und Gerry Mulligan.
Viele Saxofonisten versuchten Paul Desmond zu imitieren, keiner schaffte es wirklich.
Im Gegensatz zum Familienmann Brubeck war Paul Desmond, trotz vielen, meist kurzen und unverbindlichen Liebschaften, nie verheiratet. Er war enorm belesen, ein witziger, schlagfertiger Gesprächspartner, immer zu einem Scherz bereit. Ich hatte das Glück, als Gymnasiast 1961, nach ihrem Konzert im Casino Bern, mit dem Dave Brubeck Quartet zu dinieren.
Desmond war ein starker Raucher und liebte Dewar’s Whisky. Er starb Im Mai 1977 an Lungenkrebs. Seine beträchtlichen Tantiemen für «Take Five» vermachte er dem Roten Kreuz.
«Time Out»
Der fulminante Start mit «Blue Rondo à la Turk» im 9/8-Takt, dessen Improvisation dann jedoch in einen swingenden, konventionellen 12-Takt-Blues mündet, war der zweitgrösste Erfolg dieses Albums. Bereits hier zeigt sich der immense Unterschied zwischen dem feinfühligen, ziselierten Solo von Desmond und dem zu Beginn harten, von Akkorden geprägten, danach eher spärlichen Klavierpart Brubecks, der Desmond nur mit Bass und Drums solieren lässt.
Nach einem zweiminütigen Solointro in «Strange Meadow Lark», das Brubecks klassische Ausbildung offenbart, eröffnet Joe Morello Desmonds Solo mit langsam einblendendem 4/4-Takt. Es ist das einzige Stück auf «Time Out» in dieser Signatur.
Das Filetstück, das dieser LP zum riesigen Erfolg verhalf, ist ohne Zweifel «Take Five», das, laut Desmond, eigentlich nur als Einleitung zu Joe Morellos Schlagzeugsolo gedacht war.
Für damalige Jazzmusiker war der 5/4-Takt eine echte Herausforderung; bei Joe Morello, der übrigens seit seiner Kindheit stark sehbehindert war, klingt alles leicht und selbstverständlich. Diese selbstverständliche Leichtigkeit zieht sich durch das ganze Album: «Three to Get Ready» beginnt im 3/4-Takt, wechselt jedoch zwischen jeweils zwei Takte 3/4, zwei Takte 4/4. Die restlichen drei Stücke überraschen durch verschiedene Strukturen, in denen meistens 4/4 und 6/4 kombiniert und/oder vermischt werden.
Fazit
«Time Out» mag nicht alle Jazzfans gleichermassen begeistern – oder begeistert haben. Für einige ist es zu intellektuell, zu konstruiert. Und doch ist dieses Album zweifellos einer der wesentlichen Meilensteine, massgeblich beteiligt an der weiteren Entwicklung des Jazz: Es öffnete dem Einsatz alternativer Rhythmen zum swingenden 4/4-Takt Tür und Tor. Vor diesem Album grenzte schon nur ein Stück im 3/4-Takt für viele Jazzfans an Verrat, doch danach war (fast) alles möglich.
Zudem ist für mich Paul Desmond einer der phantasievollsten, melodiösesten Solisten überhaupt.