Ein Wunderkind ist er nicht mehr, nicht mal ein Wunderknabe. Aber was der Kanadier Jan Lisiecki mit seinen 23 Jahren an musikalischer Reife und stupender Technik auf dem Klavier zu bieten hat, grenzt an ein Wunder.
Zusammen mit dem in New York ansässigen Orpheus Chamber Orchestra, das ohne Dirigenten auskommt und sich eine spezielle, für jedes Stück ändernde Führungsstruktur durch Orchestermitglieder erarbeitet hat, ergibt sich eine Interpretation dieser Werke, wie man sie sich kaum besser vorstellen kann. Das Angebot umfasst die Klavierkonzerte 1 in g-Moll und das Klavierkonzert 2 in d-Moll sowie diverse Klavier-Solowerke von Felix Mendelssohn (1809–1847), einem der bedeutendsten Musiker der Romantik.
Beide Klavierkonzerte sind eingängige, auch für den Nicht-Klassik-Experten leicht zu verstehende Werke. Da sitzt jede Melodie, jeder Akkord und jeder perlende Lauf am richtigen Ort. Das Ohr wird umgarnt von melodiösen, romantischen, aber auch energiegeladenen und vitalen Klängen. Auch die «Variations sérieuses» für Klavier-Soli sind wahre Hits, und Jan Lisiecki versteht es meisterhaft, jede noch so keine Schattierung der Werke zu Gehör zu bringen.
Musikalisch betrachtet also eine Spitzen-Aufnahme
Doch als Freund von aussergewöhnlich guten HiRes-Aufnahmen fehlt mir das prickelnde Etwas, die Faszination der Klangfarben und der räumlichen Tiefe. Ich vermisse einen klanglichen Charme, hervorgerufen durch den Klangfarbenreichtum, der bei exzellenten HiRes-Aufnahmen so begeistern kann. Der Klang klebt an den Boxen, die Instrumentengruppen sind dicht aneinandergedrängt. Zu hören ist ein trockener, eher hölzerner Klang, der so ganz und gar nicht zu dieser zauberhaften, romantischen Musik passt.
Vom nicht-audiophilen Standpunkt betrachtet – oder besser angehört –, ist die Aufnahme ganz gewiss befriedigend und sogar als «richtig» zu bezeichnen. Das Verhältnis von Flügel zu Orchester ist gut gewählt und die Instrumentalsolisten stechen auch nicht unnatürlich aus dem Gesamtklang heraus. Eine saubere Mischpult-Arbeit also, die aber – wenigstens meiner Ansicht nach – dem musikalischen Niveau hinterherhinkt.
Vorurteile beseitigen
Dass da meine alten Vorurteile, die sich aufgrund zahlreicher mittelmässiger Aufnahmen der Deutschen Grammophon (DG) während all den Jahren gebildet haben, dabei mitspielen, lasse ich nicht gelten. Denn schliesslich klingt die in der Rezension mit dem Klarinettisten Andreas Ottensamer besprochene DG-Aufnahme absolut hervorragend. Allerdings wurde diese Aufnahme von einem anderen Team unter ganz anderen Umständen hergestellt.
Und um das Mass voll zu machen, suche ich in meiner auf absolute Highlights reduzierten LP-Sammlung nach einer DG-Scheibe und finde keine einzige. Dafür aber solche von Labels wie Nonesuch, Westminster, Sheffield Lab, Capitol, EMI Angel und Kapp Records, um nur einige zu nennen.
Eine Tatsache ist, dass die DG nie ein Label der Audiophilen war. Es ist und war das Label der Superstars wie Caruso (Aufnahmen 1902 in Mailand!), Karajan, Bernstein etc. Und die Musikfreunde, die diesen Star-Kult lieben, sind in der Regel gegenüber der Klangqualität eher anspruchslos.
Um meine Vorurteile gegen das gelbe Label endlich beseitigen zu können, bin ich für Tipps von DG-Aufnahmen, die nicht nur musikalisch, sondern auch klanglich überzeugen, immer dankbar. Wer sich für die hochinteressante Geschichte der DG interessiert, findet hier wertvolle Infos: Deutsche Grammophon
So lautet das Fazit ganz klar: Musikalisch Spitzenklasse, klanglich trotz 24 bit / 96 kHz nur Mittelklasse!