Praktischer Einsatz
Die Canon EOS R ist die Newcomerin in der spiegellosen Vollformat-Kamera-Arena, die bislang von Sony mit seinen Alpha-7 und Alpha-9-Modellen dominiert wurde. Diese bekamen erst kürzlich von Nikon mit deren Z6- und Z7-Kameras Konkurrenz. Und nun spielt auch noch Canon mit. Klar, dass man diese drei Anbieter miteinander vergleichen wird.
Während Sony den Wegfall des Spiegelgehäuses konsequent ausnutzt und die Kamera mit den kleinsten Abmessungen baut, beharren Nikon und Canon weiter auf «Gehäuse-Boliden». Mit 135,8 x 98,3 x 84,4 mm ist die Canon EOS R sogar noch etwas grösser als die Nikon Z7, dafür mit 660 Gramm die leichteste unter den Dreien (Gewicht mit Akku und Speicherkarte).
Gegenüber dem Schlachtschiff aus dem eigenen Haus, der Spiegelreflexkamera EOS 5D IV, wirkt die EOS R dann eher wie die kleine Schwester, ist auch 230 Gramm leichter, 15 mm kürzer, beinahe 2 cm niedriger, aber interessanterweise 9 mm tiefer. Dennoch sollte man Masse und Gewicht der neuen EOS R nicht unterschätzen, vor allem nicht beim Einsatz mit grösseren Optiken. Eine kompakte Ferienkamera ist sie definitiv nicht.
Neue Einstellmöglichkeiten
Avguide.ch konnte bereits ein Serienmodell der Canon EOS R, Firmware 1.00, zusammen mit dem RF-Zoom-Objektiv 24-105 mm f/4 L IS USM sowie dem lichtstarken 50 mm f/1.2 L USM einen Tag lang ausprobieren. Wer schon mit Canon-EOS-Kameras fotografiert hat, wird auch die neue EOS R problemlos beherrschen. Die Bedienung lässt sich wie keine andere Canon-Kamera beinahe komplett den eigenen Vorlieben anpassen und so optimal für seine Arbeitsweise einrichten. Interessant sind hier vor allem die neuen Einstellmöglichkeiten.
Auf der Rückseite fällt gleich auf, dass das Canon-typische grosse Einstellrad neben dem Display verschwunden ist. Dafür gibt es auf der rechten Oberseite ein Schnell-Kontroll-Rädchen. Auch der AF-Joystick fehlt, dafür hat Canon die Bedienung über den Touch-Bildschirm durchgehend umgesetzt. Der Bildschirm lässt sich übrigens ausschwenken und nach vorne drehen, ein echtes Alleinstellungsmerkmal bei spiegellosen Vollformat-Kameras. Selfie-Fans und Vlogger werden es lieben.
Ganz neu ist der Multifunktions-Balken rechts neben dem Sucher. Als Touch-Bedienfeld lässt er sich mit verschiedenen Funktionen belegen. So können durch Darüberwischen die ISO-Werte eingestellt werden oder feste Werte durch Drücken auf das rechte oder linke Balkenende abgerufen werden. Da er sich relativ nahe an der Daumenauflage befindet, habe ich ihn oft aus Versehen gedrückt. Canon ist sich dies bewusst und bietet eine Sperrfunktion an. Diese muss man für jede Einstellung jedoch erst wieder lösen. Schliesslich habe ich den Balken ganz deaktiviert, es geht auch ohne.
Das Info-Panel auf der Kamera-Oberseite lässt sich beleuchten und invers darstellen, ist jedoch etwas klein geraten. Da alle Einstellungen auch auf dem Bildschirm angezeigt werden, habe ich fast nie darauf geschaut.
Ebenfalls neu ist ein zusätzlicher Einstellring an den RF-Objektiven. Dieser lässt sich mit Blende, Verschlusszeit, ISO oder Belichtungskorrektur belegen, jeweils auf zwei unterschiedliche Arten. So hat man zum einen jederzeit den direkten Zugriff darauf, oder aber erst, wenn der Auslöser halb gedrückt oder die AE-Lock-Taste betätigt wurde. Geschickt eingesetzt hat man so z.B. beim Filmen mit der linken Hand Zoom-Ring, Fokus-Ring und Belichtungskorrektur direkt am Objektiv im Griff und mit rechts passt man Blenden-, Verschluss- oder ISO-Werte an.
Clever: Über einen EF-EOS-R-Adapter mit Objektiv-Steuerring lassen sich auch vorhandene EF-Optiken auf diese Weise bedienen. Eine weitere gute Idee ist der EF-EOS-R-Adapter mit Filtereinschub für Pol- und ND-Filter. Besonders Filmemacher sind damit flexibler unterwegs, müssen sie doch weniger «riggen», also Zubehör wie Matte-Boxen oder Filterhalter installieren.
In the Year 2417
Canon schickte uns als «mutiges Forscherteam» durch ein Zeitportal ins Jahr 2417, um dort nach der vermissten Fotografin Katherine zu suchen. Dabei stiessen wir in der Zukunft auf die merkwürdigsten Kreaturen und Einrichtungen, die wir mit unseren Kameras zu dokumentieren versuchten. Nicht immer ganz einfach, da sich Licht, Dunkelheit, bunte Farben, Geräusche und Musik munter abwechselten. Also ein ideales Testgelände für unsere lichtstarken Canon-Optiken.
Die EOS R liegt ausgezeichnet in einer normal grossen Hand, der Griff ist tief und sehr gut ausgeformt. Auch grössere Objektive hält man so sicher fest, dennoch sind Kamera und Optiken keine Leichtgewichte. Das Vollformat verlangt noch immer nach voluminösen Objektiven, vor allem bei lichtstarken Gläsern, auch wenn es jetzt spiegellos ist. Ich jedenfalls spürte am Abend mein rechtes Handgelenk deutlich.
Zurück in die Zukunft: Manchmal war es dort so dunkel, dass die Augen kaum noch etwas sahen. Hier war der elektronische OLED-Sucher mit 3,69 Millionen Bildpunkten Auflösung in seinem Element. Beinahe wie durch ein Nachtsichtgerät erkannte man jetzt die Umgebung. Auch sonst konnte er voll überzeugen und alle, die noch optischen Suchern nachtrauern, sollten ihn mal gesehen, bzw. durch ihn geäugt haben. So kann man damit sein Motiv stets im Auge behalten und gleichzeitig durch die eingeblendeten Einstellungen scrollen und sich deren Auswirkungen aufs Bild direkt anzeigen lassen. Und auch unter greller Sonne seine Fotos wiedergeben und genau überprüfen.
Mangels Joystick lässt sich mittels Pfeiltasten der Autofokus-Bereich verschieben. Viel schneller und präziser geht es jedoch über den Touchscreen. Auch wenn man dabei gleichzeitig durch den Sucher blickt. Dann lassen sich die AF-Felder per Daumen positionieren, relativ oder absolut und über den ganzen Bildschirm oder nur auf einem Teilbereich.
Über wahnsinnige 5600 AF-Positionen sind wählbar. Tatsächlich liess sich das AF-Feld bis an die obere und untere Bildschirmkante schieben, am rechten und linken Rand bleibt noch ein schmaler Streifen AF-frei. Zusammen mit dem Dual-Pixel-Autofokus ist dies eine stolze Leistung, besonders da dieser Autofokus laut Canon der aktuell schnellste sei und noch bis zu sagenhaften -6 Lichtwerten arbeitet.
Scharfstellen und stabilisieren
In der düsteren Zukunftsfabrik stellte die EOS R meistens schnell und genau scharf. Gingen die Kontraste mangels Licht noch weiter zurück, kam auch dieses Autofokus-System an seine Grenzen und ins AF-Pumpen. Draussen bei Tageslicht erfolgte das Fokussieren dann wirklich äusserst flink und präzise. Eine wahre Freude war auch die manuelle Schärfeverlagerung per Touchscreen. Im Fotomodus sprang der Fokus regelrecht auf die neue Position, während er beim Filmen die Schärfe sanft vom alten zum neuen Punkt hin verlagerte. Tolles Feature.
Beim manuellen Scharfstellen unterstützen einem Bildvergrösserung, Fokus-Peaking oder Fokus-Guide. Ich aktivierte das Fokus-Peaking, also die farbige Kanten-Anhebung und war wirklich positiv überrascht, wie gut damit die «händische» Scharfstellung gelang. Ich hatte sie oft bei sehr dunkeln Sujets im Einsatz, wo ich zwar noch etwas durch den Sucher sah, der Autofokus jedoch schon überfordert war. Und natürlich beim gezielten Freistellen von Gegenständen.
Hier brachte wie erwartet das lichtstarke 50-mm-RF-Objektiv sehr schöne Hintergrundunschärfen und war bereits bei Offenblende erstaunlich scharf. Natürlich musste damit sehr genau fokussiert werden, denn der Schärfebereich ist durch Vollformat und bei Blende f/1,2 sehr, sehr klein. Hinzu kommt noch, dass diese Optik keinen eingebauten Bildstabilisator besitzt. Ein ruhiges Händchen oder ein Stativ ist von Vorteil.
Über den fehlenden Bildstabilisator im Gehäuse (IBIS) der EOS R wurde leidenschaftlich diskutiert. Für die einen gehört er zwingend in eine neue spiegellose Kamera, die anderen wiesen auf die bildstabilisierten Canon-Objektive hin. Wie immer kommt es auch auf den fotografischen Einsatz an. Für Landschafts-Spezialisten als Beispiel ist ein Stativ obligatorisch und ein IBIS weniger wichtig.
Gut gefallen hat auch das automatische Schliessen der Blende, sobald die Kamera etwa für einen Objektivwechsel ausgeschaltet wurde. Dadurch drang kein Schmutz und Staub aus der Zukunft auf den Bildsensor. Weniger überzeugen konnte die Serienbildgeschwindigkeit der EOS R. Sie ist mit knappen 5 Bildern pro Sekunde und AF-Nachführung definitiv keine Sportskanone. Auch das anschliessende Speichern der Bilder auf die Karte dauert lange und die Kamera-Bedienung ist dabei blockiert.
Ein weiterer Diskussionspunkt war der fehlende zweite Speicherkartenplatz der EOS R. Vor allem für sicherheitsliebende Event- und Hochzeitsfotografen ein «No-Go», das Canon sicher einige potenzielle Käufer kosten wird. Der lautlose Aufnahme-Modus gefiel dagegen sehr und wäre auch für die obige Zielgruppe ideal. Damit entfiele endlich das nervige Spiegelgeklappere bei der Ringübergabe in der Kirche. Die EOS R signalisiert mit einem weissen Rahmen ums Bild, dass auch tatsächlich fotografiert wurde, denn jetzt hört man ja nichts mehr!
Filme drehen
Ich gebe es zu: Den Video-Modus habe ich erst auf Nachfrage hin gefunden. Und war nicht allein damit. Die EOS R besitzt zwar eine rote Aufnahmetaste, die man auch beim Fotografieren drücken kann. Dann wird auch eine Videoaufnahme gestartet, jedoch entweder im Vollautomatikmodus, wenn man vorher damit fotografiert hat (aber, aber), oder mit den Movie-Voreinstellungen im Anwender-Menü C3. Ohne grosse eigene Eingriffsmöglichkeiten.
Erst wenn nach Drücken der MODE-Taste auch noch auf die INFO-Taste getippt wird, kommen die Videoformat-Auswahlen zum Vorschein. Die EOS R befindet sich nun komplett im Video-Modus, und erst hier erscheinen alle Video-Menüs mit ihren Einstellmöglichkeiten.
Auch beim Filmen funktionierte der Dual-Pixel-AF sehr gut und überzeugte durch sanfte Schärfeübergänge. Im Video-Modus lässt sich auch ein elektronischer Bildstabilisator zuschalten. Leider wird das Videobild beim Umschalten auf 4K UHD gleich 1,7-mal grösser, hat also einen ziemlich starken Crop-Faktor. Dies führte wiederum zu einigen Diskussionen. Wer kein sehr weitwinkliges EF-Objektiv besitzt, wird für diese Art von Videoaufnahmen mit der EOS R nicht recht glücklich, und dazu zählen wohl viele YouTuber und Vlogger – schwenkbares Display hin oder her.
Sonst lässt sich mit der EOS R sehr gut drehen, auch dank des variablen Bildschirms, der problemlos Überkopf- und bodennahe Aufnahmen ohne grosse Verrenkungen ermöglicht. 4K-Aufnahmen (3840 x 2160 Pixel) sind mit bis zu 30 Bildern pro Sekunde, Full-HD-Video mit bis zu 60 fps möglich. Bis zu einer ununterbrochenen Dauer von maximal 30 Minuten.
Wie beim Fotografieren können auch beim Filmen die Canon-Farben einmal mehr überzeugen. Durch bereits integriertes Canon Log ist auch ein späteres Color-Grading möglich und via HDMI lässt sich ein 4K-4:2:2-10-bit-Signal extern aufzeichnen.
Die in der Zukunft verschollene Fotografin Katherine wurde natürlich gefunden und ich konnte gerade noch vor Auflösung des Zeitportals zurück ins Jahr 2018 schlüpfen, inklusive Canon EOS R und den beiden Objektiven. Einige Bilder aus der Zukunft sind in der Fotostrecke zu finden. Die 30 Megapixel grossen JPEG-Aufnahmen der EOS R sind wie immer nur aufs Web-Format verkleinert worden und stammen sonst unbearbeitet direkt aus der Kamera.
Die Videoaufnahmen zeigen, wie schnell und präzise der Canon Dual Pixel Autofokus arbeitet. Im ersten Beispiel bei Innen- und Tageslicht findet er problemlos die anvisierten Objekte und stellt sie scharf. Dabei springt er nicht wie beim Fotografieren in die Schärfe, sondern verschiebt den Fokus angenehm sanft, aber doch zügig.
Beim zweiten Beispiel im fast völlig dunklen Raum führt die Kamera den Autofokus erstaunlich gut nach, verliert ihn kurz bei einer Drehung, kommt danach jedoch sofort wieder auf Kurs.
Im dritten Beispiel wurde komplett manuell gefilmt und die Verschlusszeit zwischen 1/8 und 1/50 Sekunde verändert. Die Blende blieb offen bei f/4. Alle Videoaufnahmen wurden mit dem neuen Canon RF Objektiv 24-105 mm f/4 L IS USM gedreht.
avguide.ch meint
Die Canon EOS R startet mit sehr interessanten Objektiven und Zubehör in die spiegellose Vollformat-Welt. Vor allem Nikons neue Modelle Z6 und Z7 kriegen die Konkurrenz zu spüren, etwas weniger der alte Vollformat-Hase Sony mit seinen Alpha-Modellen.
Gesamthaft gesehen macht die neue EOS R einen gelungenen Eindruck, liegt gut in der Hand und bietet neue Bedienungselemente. Doch genau wie bei den spiegellosen Nikons gibt es auch hier einige Ungereimtheiten. Wieso fehlt ein zweiter Karteneinschub, wo ist der eingebaute optische Bildstabilisator, warum nur diese mickrige Serienbildfunktion?
Dass kein 4K 50p oder 60p Video vorhanden ist, kann man auf Grund von Canons eigenen Cinema-Kameras und Camcordern noch verstehen, den grossen 1,7-fachen Crop-Faktor bei 4K jedoch weniger. Der mitgelieferte EF-EOS-R-Adapter zeigt auch, wen Canon mit der EOS R in erster Linie ansprechen möchte. Dennoch ist das übrige Zielpublikum etwas unklar. Für Sportfotografen ist sie zu langsam, für Hochzeits- und Event-Spezialisten zu unsicher und Filmemacher müssen mittels extremem Weitwinkel-Objektiv den Crop überbrücken. Bleiben noch die anspruchsvollen Hobbyfotografen, die sich einen Auf- oder Umstieg ins spiegellose Vollformat überlegen. Mit Canon steht ihnen nun ein dritter Anbieter zur Auswahl.