MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
24. April 2023
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Und einmal mehr: Ein neues Album. Da sagt mir nur der Name des Pianisten etwas. Mal schauen, respektive: reinhören. Es ist eigentlich nicht so mein Ding. Doch bleibe ich mal dran.

Und dann konnte ich nicht mehr zurück. Es gab zu viel zu entdecken, völlig Neues, mir bisher Unbekanntes: Rhythmische Eskapaden, melodiöse Neukreationen, chaotische Improvisationen, bis ins Detail arrangierte Teile, abwechslungsreiche Stimmungsbilder, kurz: neuer Jazz vom Feinsten.

Walter Smith III

Wer einen (zumindest in USA) so weit verbreiteten Namen hat, darf sich zur klaren Identifikation getrost «der Dritte» respektive III» nennen.

Walter Smith wurde im September 1980 als Sohn eines Musiklehrers in Houston (Texas) geboren. Musik war also allgegenwärtig. Mit sieben entschied er sich fürs Tenorsaxofon. Seinen ersten Auftritt hatte er im McDonalds in Houston. Er wagte in «Blue Bossa» ein Solo zu spielen, das er selbst abscheulich fand. Doch da die Leute applaudierten, dachte er, auf dem richtigen Weg zu sein.

Während er die «Kinder High School for the Performing and Visual Arts» in Houston besuchte, erhielt er bereits diverse Auszeichnungen – und als Höhepunkt ein volles Stipendium für das renommierte Berklee College of Music. Dort schloss er 2003 seine Studien mit einem Bachelor ab. Es folgten weitere Studienabschlüsse und Diplome, u.a. am Thelonious Monk Institute of Jazz (heute in Herbie Hancock Institute of Jazz umbenannt).

Danach spielte er mit diversen Jazzgrössen wie Terence Blanchard, Roy Haynes, Christian McBride, Eric Reed, Mulgrew Miller, Joe Lovano und vielen mehr. Sein erstes Album als Leader wurde 2006 unter dem Titel «Casually Introducing» veröffentlicht. Sein vorliegendes zehntes Album unter eigenem Namen «Return to Casual» knüpft an das 2014 erschienene Album «Still Casual» an, auf dem schon damals die gleichen Musiker mit von der Partie waren. Die Rückkehr erfolgt nach vier Alben mit andern Musikern. Auch ist «Return to Casual» eine Art Ritterschlag für Smith, da es das erste Album für Blue Note Records ist.

Heute lebt Walter Smith III in Boston (MA) und ist zudem Vorsitzender der Holzbläserabteilung am Berklee College of Music.

Walter Smith III komponiert, arrangiert und spielt neuen Jazz der Spitzenklasse.Walter Smith III komponiert, arrangiert und spielt neuen Jazz der Spitzenklasse.

«Return to Casual»

Einmal mehr ein vielschichtiges Album mit völlig unterschiedlichen Stimmungen: Von spielerisch wild – für «Contra» liess er sich von einem Computerspiel aus seiner Kindheit inspirieren – über das komplex-elegante «River Styx» und die beinahe nervenden Wiederholungen des «Pup-Pow»-Riffs bis hin zu eher Besinnlichem. Und über allem glänzt der eindringliche, jedoch (meist) samtweiche Klang von Smiths Tenorsax, ergänzt von Taylor Eigstis eindringlicher Klavieruntermalung und dessen virtuosen Soli.

Der Titel «Quiet Song» muss ironisch gemeint sein, ist doch einzig die Melodie relativ ruhig, der Rest besteht aus rasenden Trommel- und Beckeneinsätzen, wilden Piano-, verzerrten Gitarren- und schreienden Saxofonklängen.

Es war sein Freund und Gasttrompeter Ambrose Akinmusire, der Walter Smith zum ersten Mal mit der Musik von Kate Bush in Kontakt brachte. «Mother Stands for Comfort» war der Beginn einer wachsenden Bewunderung für Kates Musik und die Geschichten, die ihre Songs erzählen. Deshalb beschloss er, diesen Song in einer eigenen, neu arrangierten Version in dieses Album aufzunehmen.

Freier und wilder geht es in «Amelia Earhart Ghosted Me» zu und her. In dieser Hommage an die Flugpionierin scheinen sich Smith und Akinmusire zusammen in höhere, freiere Sphären zu begeben. «K8 + BYU$» bringt die beiden Pianisten Taylor Eigsti und James Francies zusammen, die Klavier- und Rhodesklänge in technisch und musikalisch berauschender Weise vereinen.

Den Abschluss macht «REVIVE», die traurig-ruhige Abdankung und Erinnerung an Mehgan Stabile, die einflussreiche Jazzförderin und -produzentin. Sie war eine Freundin und Förderin von Smith, die im Juni 2022 im Alter von 39 Jahren verstorben war – eine eindrückliche, von Schmerz geprägte Elegie.

Natürlich ist jeder der Mitmusiker sowie die beiden Gäste zuständig für die enorme Vielseitigkeit und die stilistischen Überraschungen dieses kompakten Albums, das sich möglicherweise erst nach mehrfachem Anhören voll zu offenbaren vermag.

Und wie bei meiner vorgängigen Rezension (Joe Locke – «Makram») wird die eigene, persönliche Stimmung und psychische Verfassung wesentlich dazu beitragen, welche Stücke einen momentan am ehesten in Bann ziehen.

Die vier hauptsächlichen Stützen der «Casual»-Serie: Taylor Eigsti, Matt Stevens, Harish Raghavan und Kendrick Scott.Die vier hauptsächlichen Stützen der «Casual»-Serie: Taylor Eigsti, Matt Stevens, Harish Raghavan und Kendrick Scott.

Fazit

«Return to Casual» ist kein Album der «einmal gehört und dann in die persönliche Sammlung abgelegt»-Kategorie. Auch wenn es einen nach wenigen Takten zum Weiterhören animieren kann, muss man sich mit damit auseinandersetzen. Man kann das Album nicht als Hintergrundmusik verwenden.

Doch das ist ja eben ein Qualitätszeichen in der heutigen, schnelllebigen Zeit, in der so viel Musik produziert wird, dass uns ein Album kaum über längere Zeit zu fesseln vermag, da schon die nächsten zehn Alben unsere Aufmerksamkeit erheischen möchten.

STECKBRIEF
Interpret:
Walter Smith III
Besetzung:
Walter Smith III, Tenorsaxofon
Taylor Eigsti, Piano, Rhodes
Matt Stevens, Gitarre
Harish Raghavan, Bass
Kendrick Scott, Drums

Gäste:
Ambrose Akinmusire, Trompete
James Francies, Piano, Keyboard
Albumtitel:
«Return to Casual»
Komponist:
Walter Smith III (ausser «Mother Stands for Comfort» von Kate Bush)
Herkunft:
USA
Label:
Blue Note Records
Erscheinungsdatum:
7. April 2023
Spieldauer:
48:39
Tonformat:
FLAC 24-Bit 96.0 kHz - Stereo
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
9
Klangwertung:
10
Bezugsquellen