MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
28. Oktober 2019
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Bereits in meiner Jugend schwärmte mein Vater, damals Klavierlehrer am Konservatorium Zürich und Organist an der Neumünsterkirche, von Ravels «Konzert für die linke Hand». Ich lauschte damals mit grosser Spannung seinen Ausführungen über den Pianisten Paul Wittgenstein, der im Krieg einen Arm verloren hatte und bei verschiedenen Komponisten Konzerte für die linke Hand in Auftrag gab. Schon damals war ich von Ravels Klavierkonzert für die linke Hand in D-Dur restlos begeistert. Dies nicht nur rein musikalisch, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass man bei etlichen Passagen den Eindruck gewinnt, der Pianist benötige mindestens drei Hände, um diese zu spielen ...

1929 komponierte Maurice Ravel für Wittgenstein das Klavierkonzert in D-Dur für die linke Hand. Da Wittgenstein technische Probleme hatte, das punkto Technik sehr anspruchsvolle Konzert zu spielen, änderte er in Eigenregie gewisse Stellen ab, was dem Komponisten ganz und gar nicht gefiel. In einem Briefwechsel zwischen den beiden Künstlern versuchte Wittgenstein, sich zu verteidigen, dass Interpreten doch keine Sklaven der Komponisten sein dürften. Daraufhin Ravels klare Antwort: «Interpreten sind Sklaven.» Daraufhin kam es zum Bruch der Freundschaft. Wittgenstein war trotzdem der Solist der Uraufführung 1932, mochte dieses Klavierkonzert jedoch nicht. Anderen Quellen zufolge soll jedoch Wittgenstein das Konzert später als «geniales Werk» bezeichnet haben.

Auf Youtube sind kurze Solo-Ausschnitte (ohne Orchesterparts) von Paul Wittgenstein in einem sehr nahe bei der linken Hand aufgenommenen Video aus dem Jahre 1933 zu sehen und zu hören. Wer Details über den Pianisten Paul Wittgenstein und das Klavierkonzert für die linke Hand erfahren will, sollte sich den Artikel von Wikipedia zu Gemüte führen.

Klangqualität gegen Musikalität

Auf der Suche nach mir noch unbekannten HiRes-Aufnahmen dieses Konzerts entdecke ich auf Qobuz zwei Aufnahmen, die mir es Wert scheinen, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Es sind dies die Aufnahme mit dem Tonhalle Orchester Zürich und der jungen chinesischen Pianistin Yuja Wang aus dem Jahre 2015 in 24 bit / 96 kHz  sowie der anno 1960 veröffentlichten Aufnahme mit Robert Casadesus und dem Philadelphia Orchester unter der Leitung von Eugene Ormandy, remastered auf 24 bit / 96 kHz. 

In grosser Erwartung setze ich mich vor meine beiden Piega Coax 311, angetrieben von meinen geliebten Vintage-Verstärkern Forte Audio, als Quelle dient der HiRes-Player Pioneer XDP-300R.

Als erstes wird die neuere Aufnahme aus dem Jahr 2015 mit Yuja Wang zu Gemüte geführt. Das Stück beginnt mit seinem unheimlichen, tieffrequenten Intro. Der Klang fasziniert – das Orchester ist Spitzenklasse. Unglaublich, welche Klangfülle aus meinen kleinen Monitoren kommt. Der Klangkörper ist unglaublich breit und tief. Die Musikergruppe erscheinen aufgefächert, fast könnte man meinen, vor einer 5.1-Kanal-Anlage zu sitzen. Nach dem düsteren Intro steigert sich das Orchester nun ins Fortissimo – die Holz- und vor allem der Blechbläser erklingen edel glänzend, wirken aber nie grell, sondern natürlich brillant.

Und dann kommt der grosse Moment, bei dem die chinesische Starpianistin Yuja Wang mit der linken Hand in die Tasten greift. Der Klang des Flügels ist gigantisch, seine Kraft umwerfend. Das ist wieder mal echt HiRes in bester Form. Dann höre ich wohl viele unglaublich brillant gespielte Töne in einer Virtuosität, die auch Paul Wittgenstein neidisch gemacht hätte. Aber wo bleibt mein erwarteter kalter Riesel, der sich bei diesem Stück üblicherweise meldet und meinen Rücken hinuntergleitet? Wo bleiben Ravels tiefgründige Empfindungen, wo die musikalische Spannung? Da wird wohl exzellente Spieltechnik, aber keine tiefgründige Musikalität geboten. Die Starpianistin aus China gibt sich zwar alle Mühe mit ausgeklügelten musikalischen Artikulationen. Doch das scheint mir vom Verstand kontrolliert und nicht vom Gefühl. Ravels Ideen bleiben nach meinem Gefühl auf der Strecke. Nichts mit einem Entschweben in höhere musikalische Ebenen – eher Langeweile oder gar Ärger tun sich breit.

Meisterhaft

Aufnahme aus dem Jahr 1960. Immerhin stereofon, aber trotz digitalem Remastering auf 24 Bit / 96 kHz weit von echtem HiRes-Klang entfernt.Aufnahme aus dem Jahr 1960. Immerhin stereofon, aber trotz digitalem Remastering auf 24 Bit / 96 kHz weit von echtem HiRes-Klang entfernt.

Nun wird auf die Wiedergabe der guten alten, im Jahre 1960 aufgenommenen Aufnahme gewechselt. Und schon startet das Werk erneut mit seinen düsteren Orchesterklängen. Doch da ist trotz digitalem Remastering nichts von HiRes zu hören. Der Klang ist trocken, hell und im Fortissimo grell. Das immerhin stereophone Klangbild weist wohl eine beeindruckende Breite, aber keine räumliche Tiefe auf. Der Flügel wirkt dünn, fast etwas scheppernd. Wohl dem, der für solche Fälle noch einen Equalizer hat und den 4-kHz-Regler nach Bedarf etwas nach unten stellen kann! So wird das Klangbild deutlich entschärft.

Nun macht es bei mir sofort «Klick» und ich entschwebe in höhere musikalische Ebenen! Ja, das ist göttliche Musik. Casadesus hat den heissen Draht zum Komponisten und versteht, was Ravel mit seinen Noten ausdrücken wollte. Die Töne haben nun plötzlich Seele und fügen sich sinnvoll ein in spannungsgeladene Melodiepfade.

Wäre hier auch nur ein Ton anders, wäre das ein grober Fehler. Es ist absolut verständlich, dass sich Ravel gegen die von Wittgenstein vorgenommene Vereinfachungen zur Wehr setzte. Casadesus hat nicht nur die Technik, die es für dieses Konzert braucht, er kann anscheinend auch die von Ravel niedergeschriebenen Noten perfekt in genau die Musik umsetzen, die Ravel im Kopf hatte.

Exzellente Technik, eng verbunden mit höchster Musikalität, das ist hier Trumpf!

Nun wird das ganze mir wohlbekannte Werk von A bis Z angehört. Und erst lange nach dem Verklingen des letzten Fortissimo komme ich aus den Wolken zurück – die Erde hat mich wieder!

Fazit

Alt gegen neu: Die im Jahre 2015 aufgenommene Aufnahme mit Yuja Wang ist klanglich und spieltechnisch perfekt, musikalisch jedoch bietet sie bei weitem nicht, was ich erwartet hatte. Die Aufnahme von 1960 mit Robert Casadesus ist immerhin stereofon, doch ist sie klanglich weit weg von echtem HiRes. Dafür vereint sie perfekte Spieltechnik verbunden mit höchster Musikalität.

Die hier geäusserten klanglichen und musikalischen Eindrücke möchte ich nicht als absolute und allgemein gültige Urteile verstanden wissen. Sie sind lediglich meine höchstpersönlichen Eindrücke und Empfindungen.

Und so bin ich natürlich gespannt, wie andere Leute auf diesen Vergleich reagieren. Es wäre nun hochinteressant, aus dem Kreise der Leserinnen und Leser Stimmen dazu zu vernehmen ...

STECKBRIEF
Interpret:
Rober Casadesus /// Yuja Wang
Besetzung:
Robert Casadesus, The Philadelphia Orchstra, Eugene Ormandy /// Yuja Wang, Tonhalleorchster Zürich, Lionel Bringuir
Albumtitel:
«Ravel Left Hand Concerto»
Komponist:
Ravel
Herkunft:
USA /// Deutschland
Label:
Sony Classical /// Deutsche Grammophone
Erscheinungsdatum:
1960 /// 2015
Spieldauer:
40 min 52 sec. /// 50 min 10 sec.
Tonformat:
flac 24 Bit / 96 kHz
Medium:
Download / Streaming
Musikwertung:
10 /// 6
Klangwertung:
6 /// 9
Bemerkung:
Album Casadesus
Ravel :Konzert für die linke Hand plus Mozart : Konzert für zwei Klaviere.
///
Album Wang
Ravel : Konzert für die linke Hand plus Klavierkonzert in G-Dur
Bezugsquellen