Die grossen Sängerinnen im Jazz sind Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan und … Anita O’Day. Sie ist die einzige weisse (hoffentlich ist dieser Ausdruck heutzutage politisch korrekt) Sängerin, die mit ihren schwarzen (dito) Kolleginnen in einem Atemzug genannt wird.
Je mehr man sich mit dieser Sängerin befasst, desto eher verzeiht man ihr die wenigen Ausrutscher ins Seicht-Kommerzielle.
Anita O’Day
Anita Belle Colton wurde am 18. Oktober 1919 in Kansas City geboren. Ihre irischen Eltern zogen bald nach Chicago um, wo Anita ihre Kindheit verbrachte.
Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Anita packte die erste Gelegenheit, ihr trauriges Zuhause zu verlassen: Mit 14 zog sie mit einer Tanzgruppe quer durch die USA und begann zu singen. Auch änderte sie ihren Namen von Colton zu O’Day (einem abgeänderten Slang-Ausdruck für «dough» = Geld ).
Mit dem festen Willen, eine professionelle Sängerin zu werden, begann sie 1936 als Chorus Girl in den Topclubs von Chicago aufzutreten. Dort lernte sie auch den Schlagzeuger Don Carter kennen, den sie 1937 heiratete.
1941 wurde sie von Gene Krupa, der sie zwei Jahre zuvor in einem Jazzclub gehört hatte, als Sängerin in seine Big Band aufgenommen. Die Jazz-Zeitschrift «Down Beat» ernannte sie im selben Jahr zum «New Star of the Year».
1943 wurde Gene Krupa wegen Marihuanabesitz verhaftet, die Band wurde aufgelöst. Für Anita folgten zwei Jahre in den Bands von Woody Herman und von Stan Kenton, doch 1945 sang sie erneut in der reorganisierten Gene Krupa Band.
Mit ihrem zweiten Ehemann Carl Hoff, einem Golfprofi, lebte sie in Los Angeles, machte diverse, zum Teil erfolgreiche Aufnahmen als Solokünstlerin für kleinere Plattenlabels. Sie und ihr Mann wurden 1947 nach einer Hausdurchsuchung wegen Marihuanabesitz zu 90 Tagen Haft verurteilt.
Nach diesen drei Monaten hatte sie erfolgreiche Auftritte mit der Band von Woody Herman, dem Stan Kenton Orchestra und 1948 mit der Count Basie Big Band, doch die wirklich grosse Anerkennung als Jazzsängerin erhielt sie erst durch die 17 Alben, die sie zwischen 1952 und 1962 unter der Ägide von Norman Granz für Verve aufnahm.
Immer wieder tauchten Marihuana und damit Probleme auf. Um weiteren Verhaftungen vorzubeugen, ersetzte sie die illegale Droge mit Alkohol. Als ihr der Pianist Harry the Hipster zum ersten Mal Heroin verschaffte, war ihr Kommentar: «Super, nun muss ich nicht mehr trinken». Doch innert eines Monats wurde sie wegen Heroinbesitzes zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen guter Führung (und wahrscheinlich auch, weil die Gefängnisse überfüllt waren), wurde sie im Februar 1954 vorzeitig entlassen und begann gleich an ihrem zweiten Album für Verve zu arbeiten.
In den nächsten Jahren war sie enorm aktiv, hatte gemeinsame Auftritte u. a. mit Louis Armstrong, George Shearing, Cal Tjader und Thelonious Monk, trat 1958 am Newport Jazz Festival auf (empfehlenswerter Dokumentarfilm «Jazz on a Summer’s Day»), doch kam sie nicht vom Heroin weg.
1962 lief ihr Vertrag mit Verve aus. Ihre Karriere schien endgültig vorbei, als sie 1968 beinahe an einer Überdosis starb. Doch sie raffte sich wieder auf.
1970 gelang ihr ein Comeback am Berliner Jazz Festival. O’Day wirkte in diversen Filmen mit, hatte einen neuen Manager und gründete zusammen mit ihrem langjährigen Schlagzeuger John Poole ihr eigenes Plattenlabel Emily Records.
In ihren 1981 veröffentlichten Memoiren «High Times, Hard Times» und den darauf folgenden TV-Shows sprach sie offen über ihre Drogenabhängigkeit … und feierte Erfolge in der Carnegie Hall und am JVC Jazz Festival.
Von einem beinahe tödlichen Unfall 1996 erholte sie sich erneut «auf wunderbare Weise», nahm ihre Karriere wieder auf und veröffentlichte 2006 ihr erstes Album nach 13 Jahren: «Indestructible».
Sie starb am 23. November 2006 87-jährig im Schlaf an Herzstillstand.
«Anita Sings the Most»
Die Zusammenarbeit zwischen Anita O’Day und Oscar Peterson gilt als eine der herausragendsten Aufnahmen von O’Day. Ihr Gesang, die rhythmische Exaktheit, die jedoch mit einer entspannten Selbstverständlichkeit zelebriert wird, und ihr spezielles Timbre kommen hier besonders gut zur Geltung.
Die exorbitanten Soli von Peterson scheinen Anita O’Day nur noch mehr zu motivieren. Schon nach dem ersten Stück bleibt einem (wie es so schön heisst) die Spucke weg, Bewunderung macht sich breit: Wie konnte sie nur nach all den rhythmischen Abzweigungen wieder korrekt ins Thema zurückkehren. «They can’t take that away from me» gibt es in unzähligen Versionen, doch kenne ich keine andere, die Text und Melodie so grosszügig auslegt.
Und wie wunderbar swingend offenbart sich «Tenderly» nach dem balladesken ersten Chorus.
Und so geht es voller Überraschungen weiter, mit zusätzlichem Scat-Gesang von Anita, schönen Gitarreneinsätzen von Herb Ellis, dem swingendem Bass von Ray Brown und der diskreten Besenbegleitung von John Poole.
Das einzig Negative sind die zeitlich limitierten Stücke und somit das kurze Album: Die elf Stücke ergeben gerade Mal eine Gesamtspielzeit von rund 34 Minuten.
Die Originalbänder wurden sorgfältig digitalisiert, der Klang ist meist sauber und klar – und man vergisst schnell, dass diese HiDef-Aufnahme monaural ist.
Also
Natürlich gibt es nicht nur dieses Album von Anita O’Day, das als empfehlenswert gilt: Es wird jedoch allgemein als das beste von vielen gehandelt, wurde sauber restauriert und ist in HiDef erhältlich.
Wer mehr Anita O’Day at her best will, dem sei «Pick Yourself Up» empfohlen.