MUSIKREZENSION
ARTIKEL
Publikationsdatum
23. Mai 2024
Themen
Drucken
Teilen mit Twitter

Auch wenn «Sunset in the Blue» von Melody Gardot meistens in der Jazz-Schublade zu finden ist, wäre für viele Jazzliebhaber die Bezeichnung «Easy Listening» eher zutreffend: Die orchestralen Hintergrundarrangements sind ab und zu etwas zu viel der Guten … doch die musikalische Qualität der gesamten Produktion ist dermassen hoch, dass man grosszügig über die gelegentliche Zuckerbombe hinwegschauen kann. Denn was zusätzlich zu Melodys einschmeichelnder, intensiver Stimme, die gelegentlich Julie-London-Erinnerungen aufflackern lässt, an Soli geboten wird, ist hervorragend. Also, hartgesottene Jazzfans: Seid generös und konzentriert euch auf den Gesang und die vielen instrumentalen Meisterleistungen.

Melody Gardot

1985 in New Jersey geboren, wuchs Melody vorwiegend bei ihren Grosseltern auf, da ihre Mutter als Fotografin meist unterwegs war. Noch als Teenager begann Melody, die grossmütterlicherseits polnische Wurzeln hat, in Philadelphia Mode zu studieren.

Im November 2003 wurde sie, mit dem Fahrrad unterwegs, von einem SUV erfasst und erlitt schwere Verletzungen an Kopf, Rückgrat und Becken. Sie verbrachte ein ganzes Jahr im Spital und musste danach einfache Dinge neu erlernen. Zudem war sie nun auf Licht und Lärm überempfindlich und litt unter Gedächtnisverlust. Auch das Zeitgefühl war ihr abhanden gekommen.

Einer ihrer Ärzte überzeugte sie, dass sich Musik positiv auf die Heilung der Gehirnverletzungen auswirken würde. Er ermutigte sie, Melodien zu summen, später zu singen und ihre Stimme auf ein Tonbandgerät aufzunehmen. So kam es zu ihren ersten Liedkompositionen. Zwar hatte sie vor ihrem Unfall Klavier gespielt, hatte als 16-jährige Pianistin in Clubs gespielt, doch Sitzen war für sie nun schmerzhaft und mühsam. Deshalb lernte sie Gitarre spielen, damit sie sich auch liegend begleiten konnte.

Nicht zuletzt wegen ihrer Lärmempfindlichkeit bevorzugte sie nun sanftere Musik, erlabte sich am Bossa Nova der Stan-Getz-Ära.

Ihre ersten Songs wollte sie eigentlich gar nicht veröffentlichen, doch via eine lokale Universitäts-Radiostation gelangten ihre Demobänder zur Universal Music Group. 2006 veröffentlichte Melody Gardot ihr erstes «offizielles» Album «Worrisome Heart» (Verve), und 2009 produzierte der Bassist Larry Klein ihr zweites Album «My One and Only Thrill», derselbe Larry Klein, der auch für das aktuelle Album verantwortlich zeichnet.

Melody Gardot benötigt eigentlich nicht mehr als eine Gitarre zur optimalen Unterstützung ihrer Stimme.Melody Gardot benötigt eigentlich nicht mehr als eine Gitarre zur optimalen Unterstützung ihrer Stimme.

«Sunset in the Blue»

Wie schon eingangs erwähnt, dürften die Streicherarrangements für einige überladen und harmonisch eher simpel wirken, doch sind sie nicht allgegenwärtig. Zum Beispiel «Trav'lin' Light» oder «What’s this Thing Called Love», wo nur gerade Gitarre, Bass und ein dezentes Schlagzeug den spannenden Gesang unterstützen, demonstrieren: Weniger ist oft mehr.

Über die Hälfte der Songs stammen aus Melodys Feder; oder sie hat zumindest bei deren Entstehung mitgewirkt. Doch auch ihre diversen Interpretationen bekannter Melodien sind nie billige Coverversionen; sie macht diese Lieder zu ihren eigenen, macht etwas Neues daraus. Zum Beispiel finde ich ihre Version von «Moon River» mitreissend schön (auch wenn die Strings hier eigentlich überflüssig sind). Dieselbe Begeisterung empfinde ich für «I Fall in Love Too Easily»: In der ersten Hälfte nur mit Gitarre als Begleitung, dann kommt noch der Bass dazu, sonst nichts.

Auch ihre Mehrsprachigkeit spielt eine wichtige Rolle auf diesem beinahe 80-minütigen Album: Neben Englisch kommen ihre perfekten Französischkenntnisse und ihr (soweit ich das beurteilen kann) akzentfreies Portugiesisch/Brasilianisch zum Zug. Doch der Sprachenwechsel klingt nie gekünstelt, sondern ist immer organisch in die Songs eingebettet.

Wenn man die Liste der beteiligten Musiker durchgeht, begreift man, wieso dieses Album so abwechslungsreich ist. Die vielen aussergewöhnlichen Instrumentalsoli, aber auch die geschmackvolle, jazzige Begleitung heben diese Produktion weit über die «Middle-of-the-road-Smooth-Jazz»-Kategorie hinaus und machen es zu einer sanften Perle – mit Melodys begeisterndem Gesang im Mittelpunkt.

Fazit

Jazz oder Easy Listening: Für mich ist «Sunset in the Blue» ein Genuss, den man am besten bei gedämpftem Licht auf dem Sofa oder im Lehnstuhl mit dem persönlich bevorzugten Drink konsumiert. Würdigen wir auch die Arbeit des Royal Philharmonic Orchestras (das ja nur die altbacken wirkenden Arrangements von Vince Mendoza einspielte) und entspannen wir uns einfach bei dieser meist sanften Musik, getragen von der ruhigen, jedoch eindringlichen und überzeugenden Stimme Melody Gardots.

Anmerkung: Von diesem Album gibt es drei Varianten. Die hier besprochene «Deluxe Version», die offiziell 2021 erschien, enthält zusätzlich zur Originalversion von 2020 fünf neue, wichtige Stücke.

STECKBRIEF
Interpret:
Melody Gardot
Besetzung:
Melody Gardot, vocals
Phillippe Baden Powell, piano
Till Bronner, trumpet
Donny McCaslin, tenor saxophone
Antoine Chatenet, guitar, bass, drums, synthesizers
Dominic Miller, guitar
Anthony Wilson, guitar
Dadi Carvahlo, guitar
Nando Duarte, guitar
Larry Klein, guitar, bass
John Leftwich, bass
Sam Minaie, bass
Chuck Berghofer, bass
Vinnie Colaiuta, drums
Chuck Staab, drums
Paulinho Da Costa, percussion
António Zambujo, vocals (on C’est Magnifique)
Sting, vocals (on Little Something)
Ibrahim Maalouf, trumpet (on Love Song)
Royal Philharmonic Orchestra
Vince Mendoza, orchestral arrangements
Albumtitel:
«Sunset in the Blue» (Deluxe Version)
Komponist:
diverse
Herkunft:
UK/USA
Label:
Decca (UMD)
Erscheinungsdatum:
Deluxe Version 2021
Spieldauer:
1:18:40
Tonformat:
FLAC 24-Bit/96 kHz Stereo
Aufnahmedetails:
Aufgenommen in 10 verschiedenen Studios in Los Angeles, London, Paris und Italien
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
8
Klangwertung:
8
Bemerkung:
(siehe Fazit)
Bezugsquellen