MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
22. Juni 2021
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Schallplattenhüllen sagen normalerweise viel über den zu erwartenden musikalischen Inhalt aus – oder sie geben zumindest einen Anhaltspunkt: Beim Durchsuchen der vielen Neuerscheinungen weiss ich meistens, was mich beim Anhören der Probe-Clips erwartet: Blues, Heavy Metal, Free Jazz, ein neues Pop-Sternchen … Viele Labels haben auch ihre spezifischen Grafiken und Layouts. Selten genug wird man überrascht, doch eben dies ist mir bei diesem Album passiert.

Ein schwarz-weisses Porträt einer Frau, kein Name, kein Titel, nichts. Da ich mich in der Online-Jazzabteilung aufhielt und keine weiteren Informationen sehen konnte, erwartete ich eine mir noch unbekannte Sängerin. Gross war die Überraschung, als sanfte Harfen- und Flötenklänge den Raum füllten, die nach anderthalb Minuten dann wirklich jazzig wurden: Die Harfe, nun von Bass und Schlagzeug ergänzt, verlor den anfänglich befürchteten «New Age»-Groove. Mein Interesse stieg.

Amanda Whiting

Informationen über Amanda Whiting sind rar. Natürlich hat sie eine eigene Webseite, wurde nach dem Erscheinen dieses Albums von Jamie Cullum in dessen Radioshow auf BBC 6 interviewt, doch alles bleibt irgendwie wage. Und auch mein direkter Kontakt mit Amanda entlockte kaum mehr, als ich schon online gefunden hatte. Ja, sie wurde in Cardiff, Wales geboren; nein, ihre Eltern hatten keinen Einfluss auf ihre musikalische Entwicklung. Musikalische Geschwister? Nein … und alles Weitere würde ich ja auf ihrer Website finden.

Und da wird erwähnt, dass sie Harfenunterricht erteilt, für Anlässe (Hochzeiten, Business-Events etc.) gebucht werden kann, dass sie am Royal Welsh College of Music and Drama in Cardiff, am Royal Birmingham Conservatoire und an der Hull University unterrichtet und sieben Lehrbücher über Jazzharfe geschrieben hat.

Amanda Whiting an der Harfe.Amanda Whiting an der Harfe.

Nachdem sie im Alter von sechs Jahren am TV Harpo Marx (von den Marx Brothers) gesehen hatte, beschloss sie, Harfe spielen zu lernen – das Nationalinstrument von Wales. Sie absolvierte die klassische Ausbildung und war danach eine viel beschäftigte Harfenistin.

Nach 30 Jahren in der klassischen Musik aktiv, wurde sie plötzlich von ihrem Partner, der von einer Jazz-Jam-Session nachhause kam, mit theoretisch-musikalischen Fragen konfrontiert, die sie nicht beantworten konnte. Neugierig begann sie sich für Jazz zu interessieren, entdeckte Dorothy Ashby, die erste schwarze Jazzharfenistin, und tauchte mehr und mehr in diese Art Musik ein, bis sie, als erste Person in Grossbritannien, den «Masters of Jazz Harp» abschloss.

Als ich sie fragte, wer sie in diesem Video von Horace Silvers «Song for My Farther» am Bass begleite, schrieb sie: «My husband».

Nach diversen Ausflügen in die Pop- und Jazzwelt und ihrem Master beschloss sie, eigene Jazz-Stücke zu komponieren. Aus dieser Idee entstand schliesslich dieses Album.

«After Dark»

Ihr Album erzähle eine Geschichte, die sich überall auf der Welt schon x-fach abgespielt habe und noch oft abspielen werde: Zwei Menschen treffen sich in einer Bar, finden sich sympathisch, verlieben sich, doch nach kurzer Zeit gibt es Streit, der in «The Feist» ausartet, indem sie sich Dinge anwerfen … und doch sind beide traurig, wenn das Gegenüber geht. Wieder allein, beginnt die Geschichte von vorn.

Als ich mir das Album in Unkenntnis dieses Hintergrunds anhörte, löste es ganz andere Bilder aus, wahrscheinlich auch, weil ich noch nie jemanden in einer Bar kennenlernte. Doch das ist ja eben das Besondere und Schöne an der Musik, dass sie für jeden Menschen individuelle Bilder und Gefühle auslösen kann.

Wie bei allen wirklich guten Alben muss man sich in «After Dark» einhören, sich vor allem Zeit lassen, alle Finessen aufzunehmen. Die Musik ist, auch wenn sie mal aufwühlend wirkt, nie klanglich aggressiv, wirkt dank der Harfe eben eher sanft, verletzlich.

Wie schon eingangs erwähnt, hebt sich «After Dark» von diversen «New Age»-Harfen-Produktionen ab, ist auch harmonisch anspruchsvoller und moderner, ohne gekünstelt Neuland entdecken zu wollen.

Vom Klang her hätte ich mir das Schlagzeug etwas klarer (nicht lauter!) gewünscht; es ist zu wenig präsent, zu dumpf. Und bei einigen Stücken ist meiner Ansicht nach das Ende (technisch?) seltsam.

Fazit

Die positive Überraschung ist geglückt: Auch wenn mich nach wie vor das namenlose Cover etwas irritiert, der Inhalt ist spannend, abwechslungsreich, klanglich ansprechend und neu … alles in allem eine empfehlenswerte Bilderreise, auch wenn man beim Anhören eine ganz andere Geschichte erleben kann als diejenige, die Amanda Whiting im Hinterkopf hatte.

STECKBRIEF
Interpret:
Amanda Whiting
Besetzung:
Amanda Whiting, harp
Aidan Thorne, bass
Jon Reynolds, drums
Chip Wickham, flute (Tracks 1, 4 + 10)
Nadya Albertsson, voc (Track 12)
Albumtitel:
«After Dark»
Komponist:
Amanda Whiting
Herkunft:
UK
Label:
Jazzman
Erscheinungsdatum:
10. April 2021
Spieldauer:
47:21
Tonformat:
FLAC 24-Bit 44.1 kHz - Stereo
Aufnahmedetails:
Recorded by Andrew Lawson at Fieldgate Studios, Cardiff
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
7
Klangwertung:
7
Bemerkung:
Die Vinyl-Version ist bereits ausverkauft.
Bezugsquellen