MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
6. November 2024
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Es muss 1975 oder 1976 gewesen sein, als im Deutschen Fernsehen – wahrscheinlich als Höhepunkt einer Unterhaltungssendung – ein mir unbekannter US-amerikanischer Sänger den (damaligen) Hit «Take Five» vom Dave Brubeck Quartett interpretierte. Seine Version war so frisch, so anders als alles, was mir bisher zu Ohren gekommen war … ich war begeistert.

Von da an verfolgte ich Al Jarreaus Karriere, besorgte mir gleich die LP «We Got By» und etwas später «Breakin’ Away», die weltweit die Charts stürmte.

Und nun erschien Al Jarreaus letztes Album, das kurz vor seinem Tod (2017) anlässlich seiner letzten Tournee in Europa aufgezeichnet worden war.

Al Jarreau

Alwin Lopez Jarreau wurde am 12. März 1940 als fünftes von sechs Kindern in Milwaukee (WI) geboren. Sein Vater war Pfarrer und Sänger, arbeitete jedoch (wegen des Krieges) in einer Munitionsfabrik; seine Mutter war Kirchenorganistin. Zu Hause wurde viel gesungen und Al trat bereits mit vier Jahren an kirchlichen Veranstaltungen auf.

Nach seiner Schulzeit studierte Al Psychologie und trat jeweils abends als Sänger mit den «Indigos» auf. Nach seinem Bachelor folgte 1964 ein Master’s Degree in Vocational Rehabilitation an der Universität Iowa. Nun arbeitete Al tagsüber als Reha-Berater/Betreuer und nachts sang er zusammen mit dem Gitarristen Julio Martinez in einem kleinen Nachtklub in Sausalito (nördlich von San Francisco).

Nach vier Jahren war ihr Erfolg so gross, dass sie es wagten, Musik zu ihrem Hauptberuf zu machen. Die beiden zogen südwärts nach Hollywood. Bald folgten Auftritte in Late Night Shows, doch der grosse Durchbruch liess auf sich warten.

Erst 1975, Al war bereits 35 Jahre alt, wurde er dank Siggi Loch, damals Manager bei Warner, von WEA unter Vertrag genommen und sein erstes Album «We Got By» produziert. Loch brachte den noch unbekannten Al nach Deutschland, und dank der TV-Aufzeichnung eines seiner Konzerte kam der grosse Durchbruch in Deutschland noch vor den USA.

Nun ging es Schlag auf Schlag: Auftritt in «Saturday Night Live», zweites Album «Glow», drittes Album «Look to the Rainbow» (Ausschnitte aus Auftritten seiner Europatournee inkl. «Take Five»), Deutsche Schallplattenpreise, 1977 der erste Grammy (Best Jazz Vocal), 1978 der zweite Grammy, dann weitere, immer erfolgreichere Alben, weitere Grammys, Auftritt im Wembley in London (LP Mitschnitt), Teilnahme am Quincy Jones Projekt USA for Africa «We are the World», LP «L for Lover», usw.

Als Texter und Interpret des Titelsongs zur erfolgreichen TV-Serie «Moonlighting» mit Cybill Shepherd und Bruce Willis (im Deutschen Fernsehen als «Das Model und der Schnüffler» ausgestrahlt) war Al ab 1987 während fünf Jahren Teil der täglichen TV-Routine von Millionen von Zuschauern weltweit.

In seiner Karriere gewann Al Jarreau sieben Grammys, als einziger Sänger in allen drei Sparten Jazz, Pop und R&B.In seiner Karriere gewann Al Jarreau sieben Grammys, als einziger Sänger in allen drei Sparten Jazz, Pop und R&B.

1990 trennte sich Al von WEA und machte eine längere Studiopause. Er tourte durch die ganze Welt und verfolgte Bühnenprojekte, u.a. die Rolle des Teen Angels in Grease am Broadway.

Erst zehn Jahre später unterzeichnete er einen Vertrag mit Verve und veröffentlichte ein neues Album «Tomorrow Today» gefolgt von vielen weiteren. 2001 erhielt er einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame.

In den folgenden Jahren arbeitete Al unermüdlich, tourte, veröffentliche neue Alben, doch 2010 musste er, auf Tournee in Frankreich, wegen Atembeschwerden und Herzrhythmusstörungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Zwar erholte er sich, doch war er 2012 erneut gezwungen, wegen einer Lungenentzündung mehrere Konzerte abzusagen.

Nach einer (zu) kurzen Pause tourte er weiter bis Februar 2017. Wegen Erschöpfung wurde er in Los Angeles hospitalisiert, wo er wenige Tage danach wegen Atemversagen verstarb, kurz vor seinem 77. Geburtstag.

«Ellington»

Gleich vorweg: Das neue ACT-Album (auch als Doppel-LP erhältlich) lohnt sich schon nur wegen der atemberaubenden NDR-Bigband: Die swingenden, kompakten Arrangements, deren perfekte und trotzdem locker wirkende Ausführung, sowie die diversen einschmeichelnden bis wilden Soli sind absolute Topklasse. Al Jarreaus Bemerkung «Count Basie, Duke Ellington … look out» mag leicht übertrieben wirken, hat jedoch durchaus ihre Berechtigung.

Natürlich wirkt Al Jarreaus Stimme stellenweise sensibler, weniger belastbar als in seinen jungen Jahren, doch seine Begeisterungsfähigkeit, seine Bühnenpräsenz und seine positive Ausstrahlung sind nach wie vor grossartig.

Auf Youtube gibt es von diversen Auftritten Al Jarreaus auf jener Europatournee «Dokumente» (illegale Phone-Mitschnitte), auf denen sowohl seine Stimme als auch sein Gesundheitszustand wirklich fragil wirken. Nicht so auf dieser Sammlung bekannter Melodien aus der Ellington/Strayhorn-Feder, die Al Jarreau auf seine spezielle, persönliche Weise interpretiert. Somit gebührt zumindest ein Kränzchen den ACT-Leuten, die die Stückwahl für dieses Album trafen.

Lieblingsstück? Jede der Ellington-Kompositionen hat ihren eigenen Charakter, ihren speziellen Charme. «Take the A Train» dürfte nach dem ersten Durchhören zum Favoriten aufsteigen, doch bei jedem erneuten Geniessen der guten Laune verbreitenden Live-Atmosphäre ändert sich meine Wahl.

Fazit

Al Jarreaus letztes Album, das nur Monate vor seinem Tod aufgezeichnet wurde, ist wesentlich mehr als nur ein Zeitdokument. Es ist ein Bigband-Fest und eine Hommage an Al Jarreaus spezielle Stimme und seine besondere Art, diese einzusetzen.

Und zudem ist es aussergewöhnlich, dass Siggi Loch (ebenfalls Jahrgang 1940!), der Al Jarreau via WEA zu Weltruhm verhalf, nun dieses letzte Album auf seinem eigenen, unabhängigen Jazzlabel ACT veröffentlichen konnte. Der Kreis hat sich geschlossen.

STECKBRIEF
Interpret:
Al Jarreau
Besetzung:
NDR Bigband:
Trumpets & flugelhorns
Thorsten Benkenstein, Ingolf Burkhardt, Nicolas Boysen, Reiner Winterschladen
Saxophones
Fiete Felsch, Björn Berger, Christof Lauer, Frank Delle, Tini Thomsen
Trombones
Dan Gottshall, Günter Bollmann, Klaus Heidenreich, Stefan Lottermann, Ingo Lahme
Tuba Ingo Lahme
Piano, Rhodes Hans Vroomans
E+A guitar Peter Tiehuis
E+A bass Christian Diener
Drums Wolfgang Haffner
Conductor & arranger Jörg Achim Keller
Vocals arranger Joe Turano
Albumtitel:
«Ellington»
Komponist:
Duke Ellington, Billy Strayhorn
Herkunft:
Deutschland
Label:
ACT
Erscheinungsdatum:
1. November 2024
Spieldauer:
54:57
Tonformat:
FLAC 24-Bit/48 kHz Stereo
Aufnahmedetails:
Recorded at Paradiso in Amsterdam, Netherlands, on 26 November 2016 and at the Opera Garnier in Monte Carlo, Monaco, on 29 November 2016
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
9
Klangwertung:
9
Bemerkung:
Die eingangs erwähnte Version von «Take Five» gibt es in verschiedenen Fassungen auf Youtube zu sehen.
Zudem ist eine Version auf dem Album «WOW! Live at the Childe Harold August 1976» zu finden, das am 06.12.2024 bei Resonance Records erscheinen wird.
Bezugsquellen