Kürzlich wieder – und immer wieder – finde ich in Diskussionsgruppen, Fachmedien und Foren Aussagen, welche die wahrheitsgetreue Musikwiedergabe aka High-Fidelity (HiFi) infrage stellen und gar als «unmusikalisch» abtun. Ich meine damit Aussagen wie: «Wir hören lieber Musik als HiFi». Es gibt immer mehr Musikhörer, die der Begriffe HiFi, High-End oder audiophil überdrüssig sind und sich mit solchen Aussagen Gehör verschaffen.
Es gibt zwischen dem Attribut «musikalisch» und HiFi keinen grundsätzlichen Widerspruch, denn eine wahrheitsgetreue Wiedergabe orientiert sich an der Original-Musik zum Zeitpunkt und am Ort der Aufnahme und hat nicht per se einen «musikalischen» Qualitätsanspruch. HiFi bedeutet per Definition nicht, dass uns die Musik qualitativ – rational oder emotional – anspricht. HiFi bedeutet nur, dass die Wiedergabe treu der Aufnahme entsprechen soll.
Umgekehrt hat das oft zitierte Attribut «musikalisch» oder die Musikalität nichts mit Wiedergabetreue von Musikaufnahmen (recorded music) zu tun. Begriffe wie «musikalisch» bezeichnen einen gefühlsmässigen Zuspruch bzw. positive Empfindungen beim Erleben von Musikwiedergabe. Der Musikhörer findet mit innerer Überzeugung, dass die gehörte Darbietung wirklich Musik ist. Das ist ein emotionaler, mehrdimensionaler und höchst individueller Zuspruch.
Wir können also eine Musikwiedergabe treu und richtig empfinden, aber sie spricht uns nicht an. Wir können eine Musikwiedergabe als unglaublich musikalisch wahrnehmen, aber sie entspricht nicht treu der Aufnahme. Beides ist auch möglich: treu und musikalisch.
Grosse Toleranzen …
… gibt es bei Musikhörern sowohl bei der Einschätzung von richtig oder falsch, getreu oder ungetreu, schön oder nicht schön und musikalisch oder unmusikalisch. Gerade das Attribut «analytisch» bezeichnet im Grunde Exaktheit auf Kosten der Schönheit und wird gerne als Präferenz der Tontechniker interpretiert.
Die Tontechniker leben aber auch mit grossen Toleranzen und individueller Wahrnehmung von Schönheit und Musikalität. Denken wir nur an die vielen Vintage-Mikrofone oder Röhren-Kompressoren, die bei sorgfältigen Aufnahmen zum Einsatz kommen und die ganz unterschiedlichen Präferenzen bei der emotional bewerteten Qualität der Studio-Monitore, die in Tonstudios eingesetzt werden.
Der «technoide» Tontechniker oder Musikproduzent hat sich nicht durchgesetzt, vor allem nicht bei den weniger kommerziellen Aufnahmen mit hohem Qualitätsanspruch. Die Musik also, für die sich dann die ambitionierten Musikhörer besonders interessieren.
Die grössten Toleranzen orte ich allerdings bei den Audio-Anlagen der ambitionierten Musikhörer: Es gibt kaum ein Teilgebiet oder einen Gerätetyp ohne glühende Anhänger oder «Prinzip-Verherrlicher». Besonders auffällig ist Vintage-Audio mit vielen Anhängern, die der modernen HiFi- oder Audiotechnik jeden Qualitätsanspruch streitig zu machen trachten.
Wer kann was beurteilen?
Man liest heute immer wieder das Versprechen der Wiedergabetreue: Es klingt «wie im Konzertsaal» oder es klingt so, «wie es bei der Aufnahme klang». Das ist inflationäre PR vieler Marken und Hersteller, aber wer war schon bei der Aufnahme dabei? Viele Aufnahmen sind gar keine Live-Aufnahmen, finden also in einem virtuellen Raum statt, wo die Wahrheit beim Overdubbing aufgeschichtet, beim Mixing zusammengemischt und beim Mastering verfeinert wird. Man kann diesen Aufnahmen gar nicht beiwohnen.
Gerade der Musikhörer kann nur in seltenen Fällen bei Aufnahmen anwesend sein. In der Schweiz war das zum Beispiel am Klangschloss 2022 möglich. Die Besucher konnten in grösserer Zahl den sorgfältigen Live-Aufnahmen beiwohnen und im Anschluss konnten sie sich die Wiedergabe(n) anhören.
Aufnahmetreue kann aber sehr wohl beurteilt werden. Die digitale Audiotechnik machts möglich. Dank Bit-Transparenz ist heute die Originalität der Aufnahme auch auf der Wiedergabeseite nachweisbar – auch mit Musikstreaming. Nur klingt es halt erst mit den Lautsprechern und der Raumakustik. Dort werden Aufnahmetreue und Musikalität hörbar und erlebbar. Dort, und erst dort kann jedermann mitreden, beurteilen, seine Meinung abgeben, ganz individuell, mit den eigenen Ohren.
Ist HiFi noch richtig?
Der Begriff stammt aus den 1950er-Jahren, als man sowohl auf der Aufnahme- als auch auf der Wiedergabeseite enorme Fortschritte erzielte. Die Grammophone waren passé und die elektrotechnischen Wiedergabegeräte und Lautsprecher ermöglichten fast schlagartig eine massiv verbesserte Musikwiedergabe im Wohnzimmer. Es klang breitbandiger, unverzerrter und unverfärbter. Es war der Anfang einer Entwicklung, die man unter dem Begriff High Fidelity zusammenfasste.
Das ist zwar lange her. Trotzdem ist die getreue Musikwiedergabe, also HiFi, das Mass der Dinge geblieben. Sie ist die Grundvoraussetzung für die vielbeschworene Musikalität der Anlage, die irgendwo im Bereich Verstärkung/Schallwandlung und Hörraum entschieden wird.
Es ist nicht korrekt, HiFi als Gegenteil von Musikgenuss zu orten, weil es zwischen Musikalität und Aufnahmetreue keinen direkten Zusammenhang gibt. Die Unzufriedenheit vieler Musikhörer mit HiFi-Anlagen – ob High-End oder was auch immer – weist darauf hin, dass sie nach Alternativen suchen, die sie näher an die Musik bringen sollen. Es erstaunt, dass viele Anlagen, die die Musikalität richten sollen, sich an den Konzepten der 1950er- und 1960er-Jahre orientieren. Beispiele sind: Hornlautsprecher, Elektrostaten, Röhrenverstärker. Konzepte, die man damals unter dem Begriff HiFi feierte.