Digitaler Umbruch
Sie ahnen es – wieder kommt irgendwann die Marktsättigung und die Absatzzahlen sinken. Es gibt nun halt auch klassische Komponisten, deren künstlerische Inspiration weit unterhalb des Niveaus der grossen Namen liegt. Doch kurz vor dem erneuten Abschwung kommt ein neuer Rettungsschirm im Jahr 2000 – HiRes-Audio in Form der SACD und wenige Jahre später als Download. Musik ist nun in höherer Auflösung als die der CD erhältlich – und mit mehr als zwei Tonkanälen. Im Gegensatz zur Pop-Musikindustrie hat die klassische Musikproduktion das HiRes-Format sehr schnell adaptiert. Mit dem grösseren Dynamik- und Frequenzumfang lässt sich das Klanggeschehen vollumfänglich und akkurat abbilden. Was für eine enorme Entwicklung seit der Caruso-Aufnahme von 1902!
Also nochmals eine neue Runde Schubert, Beethoven, Brahms, Bach, Mozart, Mahler …? Durchaus gerechtfertigt in zahlreichen Fällen, aber nicht in allen. Dies auch dank neuen Interpretationen basierend auf neuen Erkenntnissen der Musikforschung und einer Aufnahmetechnik, die kaum Wünsche offenlässt. Aufnahmeraum, Mikrofonierung, Orchesteraufstellung rücken nun uns Zentrum, das Speicher- und Distributionsmedium ist nicht mehr der Flaschenhals.
Eine neue Generation von «All-in-One-Tonmeistern» (Aufnahme, Mischung, Mastering) mit kleinen, audiophilen Labels (Alpha, Mirare, Lawo, 2L, Channel Classics, Aparte …) bringen eine neue Klangästhetik ins Heim. Doch der Mehrnutzen nimmt mit jedem technischen Entwicklungsschritt ab. Das heimische Audiosystem muss die höhere Klangqualität der Aufnahme auch hörbar machen.
Present Time – die schwierige Suche nach Erfolg?
Betrachtet man dieses Wechselspiel von auf und ab, fällt – kaum überraschend – auf, dass die Zyklen immer kürzer werden. Grob gerechnet: Schellack 60 Jahre, Vinyl 25 Jahre, CD 17 Jahre, Download 10 Jahre, bis Streaming die Oberhand hatte und noch immer hat. Liebe Vinyl-Freunde, euer Einspruch, dass die LP seit den 60er-Jahren auf dem Markt ist, nie vollständig verschwand und seit etwas mehr als zehn Jahren den Marktanteil von unter 1 % auf 3 % und auf 6 % erhöht hat, ändert nichts an der Tatsache, dass heute 94 % der Musikdistribution in einem digitalen Format erfolgt. Tempi passati.
Schaut man sich thematisch die Fülle von neuen Klassik-Alben an, dann ist man geneigt, eine neue Orientierungslosigkeit oder gar Krise zu erkennen. Nach einem deutlichen Einbruch in den Nullerjahren erholte sich die ganze Musikbranche ab 2010 kontinuierlich. Der Anteil des Klassikumsatzes sank seit 2010 von 4,9 % auf 2,2 % im Jahr 2019. Der Aufschwung ging an der Klassik vorbei, man konnte bestenfalls den Umsatz knapp halten. Pop/Rock ist und war der Dominator.
Neueinspielungen mit klassischer Musik sind auch heute noch trotz moderner und effizienter Produktions- und Distributionsmethoden ein kommerziell riskantes Unterfangen. Die bekannten Werke grosser Komponisten wurden schon häufig aufgenommen. Welchen Repertoirewert hat dann zum Beispiel ein neues Album mit der 4. und 5. Symphonie von Mendelssohn, wenn diese Werke seit der Schelllackzeit auf Tonträger verfügbar sind? Bei Beethoven und Mozart, Brahms und Haydn gibt es diese zu Hunderten!
Es gibt viele Gründe für eine Neuaufnahme:
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Der technische Fortschritt ermöglicht ein neues Niveau an Klangpräzision und Detailauflösung (HiRes-Audio/neue Aufnahmemethoden)
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Die Auffassungen über die Interpretation eines Werkes haben sich verändert, ebenso die Klangästhetik. Dies im Wechselspiel mit dem technischen Fortschritt.
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Historisch orientierte Aufführungspraxis, die sich auf neuste musikwissenschaftliche Erkenntnisse beruft. Heute trifft romantisierender (Gross-)Orchesterklang aus der Epoche von der Karajan, Böhm, Haitink, Maazel mit Streicherdominanz auf reduzierte Orchestergrösse, vereint mit einer präsenteren Abbildung einzelner Orchestergruppen und dem Herausschälen von kompositorischen Linien und Entwicklungen.
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Alternative Fassungen, wie sie auch bei Mahler, Bruckner oder gar Beethoven (Violinkonzert Op. 61 in der Klavierfassung) gibt, da der Komponist mit dem Werk nicht zufrieden war. Oder in der Frühklassik und im Barock, wo man je nach Orchestersituation die Orchestrierung oder das Soloinstrument einfach änderte. War ein Instrument nicht verfügbar, wurde es durch ein anderes ersetzt.
All diese Elemente erweitern das Spektrum des Hörgenusses. Welche Auffassung eines Werkes einem Hörer mehr zusagt, sei diesem überlassen. Die einen mögen klar heraushörbare Motivarbeit und Orchesterregister, Transparenz und Durchhörbarkeit in der Raumtiefe. Dies mag für andere sezierend wirken, sie bevorzugen Klangverschmelzung, was auf Kosten von hörbarem Detailreichtum geht. Dies beschreibt allerdings nur den groben klanglichen Gesamteindruck. Die Feinheiten der Interpretation eines Werkes entstehen auf der Taktebene und sind von grösserer Bedeutung bei allen Einspielungen.
Klein aber Kauffreudig
Die Klassik-Zielgruppe ist und war immer klein, mit einem Anteil zwischen 6 bis 12 % innerhalb der Gesamtheit der Musikhörenden. Letzterer Wert wurde nur zu Boomzeiten erreicht. Dass hier pro Kopf mehr ausgegeben wird, ändert nichts am Gesamtbild. Mehr Absatz konnte mit Crossover-Produktionen (Mischung aus Klassik mit Pop-Mainstream-Elementen) erreicht werden. Es liegt nahe, die Käufergruppen mit Easy-Listening-Alben zu erweitern. Genau dies scheint im Moment ein (schwacher) Trend zu sein, beobachtet man die immer noch grosse Zahl von Neuveröffentlichungen im Klassik-Genre.
Alben mit unspezifischen Titeln wie «Vitamin C», sind Zusammenstellungen meist eingängiger Stücke diverser Komponisten. Im Gegensatz zu thematisch einheitlichen Alben (z. B. alle Schumann-Streichquartette Op. 41 1 bis 3). Nun, wenn dadurch ein Hörer den Zugang zu Klassik findet und dann im Zeitablauf vertiefter reinhört, ist viel gewonnen.
Speicherplatz ist billig
Mit den Streaming- und Download-Plattformen wie Qobuz lässt sich der gesamte Backkatalog ohne grossen Kostenaufwand feilbieten. So ist heute online eine Fülle von historischen Aufnahmen verfügbar. Teils nachbearbeitet, aber eher selten mit Booklet und Hintergrundinformationen. Da wird dann eine Live-Aufnahme von Furtwängler mit Beethovens Neunter im Format 24Bit/192 kHz eingestellt – schlichtweg ein Unsinn. Eine originale Mono-Aufnahme, vermutlich aus dem Jahr 1951. Auf diese Weise Kunden zu einem Nachkauf zu motivieren, wird kaum gelingen.
Fazit
Die Klassikindustrie produziert seit mehr als hundert Jahren Aufnahmen mit Werken von längst verstorbenen Komponisten. Der technische Fortschritt war immer wieder Rechtfertigung für Neuaufnahmen, die Bestandeskunden zum Neukauf motiviert und Neukunden angezogen haben. So folgten sich Zyklen von Auf- und Abschwung. Nachdem die technischen Vorzüge von HiRes-Audio und das Lancieren von bisher wenig oder unbekannten Komponisten bereits seit einigen Jahren etabliert sind, wird es zunehmend schwieriger, wirklich Neues und Überraschendes zu veröffentlichen. Neue Künstler, neue Interpretationen sind das primär verbleibende Neuheiten-Potenzial. Dennoch, es bleibt spannend, kommen doch jeden Monat durchaus attraktive Titel auf den Markt. Die nächste Ausgabe von Haydn 2032 erscheint am 1.9.2023: Vol. 14 – L’Impériale. Stay tuned!