MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
25. November 2020
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Im Booklet wird Bill Cunliffe zitiert: «Ich höre immer noch mehr klassische Musik als Jazz. Dort bekomme ich harmonische Ideen und Inspiration. Ich liebe Musik, die ein kompletter Gedanke ist, die sich von Anfang bis zum Ende entwickelt, mehr als eine Reihe von Soli. Wenn es keine Geschichte gibt, ist es nicht wirklich so interessant.»

Diese Haltung setzt er mit seinem Trio durch die ganze Session um. Nicht, dass es keine Soli gäbe – und was für welche! – doch die Stück haben Struktur, sind klar aufgebaut, sollen eben eine Geschichte erzählen. Trotzdem lassen sie genügend Freiraum für fulminante Ausbrüche.

Der Albumtitel mag verwirren: «Bernie’s» ist kein Club in Kalifornien und «Live» bedeutet nicht «vor Publikum». Bernie’s ist das Mastering-Studio des wohl berühmtesten Meisters des ausgewogenen Klangs, Bernie Grundman. In seinen Mastering-Studios in Hollywood wurde tausenden von Alben der letzte Schliff verpasst, so auch diesem.

Doch diesmal war es anders: Die Empfangshalle wurde kurzerhand in ein Studio umfunktioniert, ein Hamburg-Steinway-Flügel optimal platziert und akustisch optimiert. Auch das Schlagzeug und der Platz für den Bassisten waren genau bestimmt worden, bevor diese «Live»-Aufnahme beginnen konnte. Live, weil keine Fehler erlaubt waren, da das Set einerseits direkt auf Matrizen geschnitten wurde (jede erlaubte 15 Minuten Aufnahmezeit) für die analoge Vinyl-Produktion. Aufgenommen wurde digital auf das damals (2001) bahnbrechende DSD-System (Direct Stream Digital) von Sony. Verwendet wurden nur fünf Mikrofone (siehe Steckbrief).

Und nun liegt dieses Album bei NativeDSD in diesem überragenden Format, dem «analoge Wärme» nachgesagt wird, vor. Mehr Hintergrundwissen erwünscht? Hier erfahren Sie mehr über die Vorzüge von DSD mit allen notwendigen technischen Erläuterungen.

Für diese Session wurde der Steinway-Flügel in eine dicke Decke gepackt.Für diese Session wurde der Steinway-Flügel in eine dicke Decke gepackt.

Bill Cunliffe

Der 1956 in Massachusetts geborene Pianist ist vor allem für seine Kompositionen und Arrangements bekannt. Er bewegt sich in zwei Welten, komponiert, spielt und dirigiert klassische Werke sowie Jazz.

Seine Liebe zur Musik hat er von seiner Mutter geerbt, einer ausgezeichneten Pianistin, neben die er sich in jüngsten Jahren setzte, wenn sie Klavier spielte, ihr zuschaute und später versuchte, das eben Gehörte nachzuspielen. Musikalisch war er nie «einseitig»: Alles, was interessante Harmonien hatte, faszinierte ihn. Während der Schulzeit spielte er aber auch Rock'n'Roll.

Als ihm am College ein Kollege eine Oscar-Peterson-Platte schenkte, wurde Bill sozusagen über Nacht zum Jazzpianisten. Nach seinem Studienabschluss studierte er Jazzklavier bei Mary Lou Williams.

Nach wenigen Jahren als Musiklehrer engagierte ihn Buddy Rich als Pianist und Arrangeur für seine Big Band. 1989 zog er nach Los Angeles und gewann noch im selben Jahr die Thelonious Monk Jazz Piano Competition. Dies war sowohl ein finanzieller Zustupf als auch ein Karriereschub.

1990 trat er dem Clayton Hamilton Orchestra bei und machte in den kommenden Jahren mit unterschiedlichen Gruppen verschiedene Aufnahmen für diverse Labels, unter anderem 2001 dieses aussergewöhnliche Album. Auch schrieb er diverse Lehrbücher: Seine «Jazz Keyboard Toolbox» wurde zum Standardwerk an Jazzschulen.

In den letzten 20 Jahren schrieb er verschiedene grössere Werke, zum Teil mit Einflüssen aus der klassischen Musik sowie dem Jazz. Er wurde mehrmals für einen Grammy nominiert und gewann 2010 den Grammy für das beste instrumentale Arrangement für Oscar Petersons West Side Story Medley. Zudem ist er Musikprofessor an der California State University Fullerton und unterrichtet an weiteren renommierten Universitäten in Südkalifornien.

Joe LaBarbera und Darek Oleszkiewicz.Joe LaBarbera und Darek Oleszkiewicz.

«Live at Bernie’s»

Schon gleich das erste Stück fasziniert mich. Ich kenne viele Versionen von «Satin Doll», spielte es selbst in diversen Formationen. Doch was Bill Cunliffe hier aus diesem Standard macht, ist einmalig: Eine überarbeitete Harmonisierung verändert das Stück, ohne ihm die Identität zu rauben.

Bill Evans Stück «Waltz for Debbie» ist nicht nur schneller als das Original, das der Schlagzeuger Joe LaBarbera mehrmals mit dem Altmeister spielte, sondern beinhaltet in komplexen Arrangements Bass- und Schlagzeugbeiträge vom Feinsten.

Dass Bill Cunliffe auch musikalisch Landschaften malen kann, beweist er in seiner Komposition «Ireland», die uns wie ein Drohnenflug über die grüne Insel mit ihren schroffen Klippen führt.

So wechseln sich Balladen und rasante Stück ab, vier Cunliffe-Kompositionen, ein Beitrag von Oleszkiewicz und fünf Interpretationen von bekannteren Stücken, jedes auf sein Art einmalig und speziell.

Die drei Musiker gehen dermassen organisch aufeinander ein, dass man als Hörer die Komplexität gar nicht mehr realisiert, sondern nur noch die Klangfarben und die «Geschichten» zurücklehnend geniesst.

Zum Schluss spielt Bill Cunliffe allein «Imagine» von John Lennon: «Es hat eine so schöne Melodie».

Fazit

«Live at Bernie’s» von The Bill Cunliffe Trio ist ein Genuss in mehrfacher Form: Zum einen ist die Musik – sind die drei Musiker – aussergewöhnlich gut, das Zusammenspiel des Trios wie aus einem Guss. Und zum anderen unterstützt die überzeugende Qualität der Direktaufnahme im DSD-Format den Hörgenuss.

Sicher ist die Musik des Trios intellektueller, vorbereiteter, arrangierter als zum Beispiel Aufnahmen von Gene Harris, dessen vom Gospel und vom Blues inspirierter Klavierstil ursprünglicher wirkt und deshalb (meine) Gefühle direkter anspricht. Bill Cunliffe ist eben eher der Maler, der Beschreiber, der Geschichtenerzähler, dessen Bilder uns zum Verweilen einladen.

STECKBRIEF
Interpret:
The Bill Cunliffe Trio
Besetzung:
Bill Cunliffe, Piano
Darek Oleszkiewicz, Bass
Joe LaBarbera, Drums
Albumtitel:
The Bill Cunliffe Trio «Live at Bernie’s»
Herkunft:
USA
Label:
Groove Note
Erscheinungsdatum:
2001
Spieldauer:
60:57
Tonformat:
DSD 64/128/256 (Original Recording DSD 64)
Aufnahmedetails:
Recorded by Michael C. Ross at Bernie Grundman Mastering Hollywood, CA on February 24 and 25, 2001
Assistant Engineer: Mike Aarvold
Mastering Engineer: Bernie Grundman using the Sony Direct Stream Digital System
Recorder: Sony Direct Stream Digital System with custom engineered ADCs and DACs by Ed Meitner, EMM Labs.
Microphones: Llomo 919A-19, AKG C-12A, 414, Neumann U-47, Sony C-55p
Medium:
DSD
Musikwertung:
9
Klangwertung:
9
Bezugsquellen