Sonny Rollins ist wohl einer der wenigen Jazzmusiker, die nicht nur Geschichte geschrieben, sondern auch mit mehr oder weniger sämtlichen Jazzgrössen der letzten 65 Jahre zusammengespielt hat. Heute ist er zwar musikalisch nicht mehr wirklich aktiv, doch immer wieder bereit, in Interviews aus seinem Leben zu erzählen.
Dabei kommen auch seine Lebensphilosophien zur Sprache, die vielen Erkenntnisse, die er im Laufe seines bewegten Lebens sammelte. Aber auch wenn er über gesunde Ernährung oder Yoga spricht, wirkt er nie missionarisch: «Jeder Mensch soll nach seiner Überzeugung leben, selbst erfahren, was für ihn gut oder eben weniger gut ist.» So erzählt er in einem Interview, dass er in den 90er-Jahren erkannte, dass Fernsehen schlecht für ihn sei, da es seine Fantasie verkümmern lasse. Er kehrte deshalb wieder vermehrt zum Radio zurück, doch am wichtigsten für ihn sei eine gehörige Portion Stille; wobei Stille (Silence) nicht der richtige Ausdruck dafür sei, denn völlige Stille gebe es nirgends.
Sonny Rollins
Am 7. September 1930 kam Sonny als jüngstes von drei Kindern in New York zur Welt. Seine Eltern stammten aus den United States Virgin Islands (Inselgruppe in der Karibik). Er wuchs in Harlem und Sugar Hill auf und besuchte auch die dortigen Schulen. Rollins spielte zuerst Klavier, erhielt sein erstes (Alt-)Saxophon, als er acht Jahre alt war und wechselte erst mit 16 zum Tenorsaxophon. Während seiner High-School-Zeit spielte er bereits in einer Band, in der andere angehende Jazzgrössen wie Jackie McLean, Kenny Drew und Art Taylor mit von der Partie waren.
Nach dem Schulabschluss begann Rollins gleich seine Karriere als Berufsmusiker und machte bereits ein Jahr später seine erste Schallplattenaufnahme, lernte dadurch den Posaunisten und Arrangeur J. J. Johnson kennen, mit dem er, unter der Leitung von Bud Powell, an einer «Hard Bop»-Session teilnahm.
Als 20-Jähriger verbrachte er zehn Monate wegen «bewaffnetem Raub» im Gefängnis. Auch wurde er zwei Jahre später wegen Verwendung von Heroin verhaftet. Dazwischen (1951 und 1953) machte er Aufnahmen mit Miles Davis, dem Modern Jazz Quartet, Charlie Parker und Thelonious Monk.
Sein erster wirklicher Durchbruch erfolgte 1954 mit den Aufnahmen seiner Kompositionen «Oleo», «Airegin» und «Doxy» in einem Quintett mit Miles und Horace Silver.
Um von seiner Heroinsucht wegzukommen, unterzog er sich 1955 freiwillig einer (damals völlig neuen, experimentellen) Methadon-Therapie, die für Rollins nicht nur erfolgreich verlief, sondern auch neuen musikalischen Erfolg brachte.
1956 nahm er in den Rudy Van Gelder Studios in New Jersey «Saxophone Colossus» auf. Neben seinem Lieblingsdrummer Max Roach konnte er Tommy Flanagan und Dough Watkins für diese Aufnahme gewinnen. Noch im selben Jahr entstanden weitere, bemerkenswerte LPs: «Tenor Madness» und sein erstes Album für Blue Note «Sonny Rollins, Vol. 1». Auch übernahm er den Sax Part auf dem Thelonious-Monk-Album «Brilliant Corners».
1957 folgten zwei weitere bemerkenswerte Alben, nur mit Bass und Schlagzeug. Das eine, «Way Out West» mit Ray Brown und Shelly Manne, wurde ebenfalls remastered und ist als Hi-Res-Version erhältlich.
In den folgenden zwei Jahren war Sonny Rollins sowohl als Saxophonist als auch als Komponist dermassen aktiv, dass er sich im Sommer 1959 eine zweijährige Auszeit gönnte, in der er jedoch täglich bis zu 16 Stunden übte. Um die Leute – «vor allem die Schwangeren» – nicht zu stören, übte er (bei jedem Wetter) im Freien auf der Williamsburg-Brücke. In dieser Zeit entdeckte er auch Yoga.
Im November 1961 «erkannte ich, dass ich in die wirkliche Welt, ins wirkliche Leben zurückkehren musste». Zur Erinnerung an seine Auszeit betitelte er sein erstes Album für Riverside Records 1962 «The Bridge», das zu einem Bestseller wurde.
Es folgten viele weitere Erfolge, eine zweite, zweijährige Auszeit, viele Auszeichnungen, über zehn Ehrendoktortitel verschiedenster Universitäten, weltweite Auftritte und diverse Grammy Awards. Seit 2012 ist er jedoch nicht mehr öffentlich aufgetreten wegen «wiederkehrenden Atemproblemen».
«Saxophone Colossus»
Aufgenommen am 22. Juni 1956 in den Rudy-Van-Gelder-Studios in New Jersey ist das Album mit fünf Stücken rund 40 Minuten lang. Obgleich es bereits das sechste Album ist, das Sonny Rollins unter eigenem Namen aufzeichnete, gilt es als Beweis, dass drogenfreie Musiker ebenso gut, wenn nicht besser spielen können als zugedröhnte.
Das Eröffnungsstück «St. Thomas» wurde zu einer der bekanntesten Rollins-Kompositionen und basierte auf einer karibischen Melodie, die ihm seine Mutter in seiner Kindheit vorgesungen hatte. Es blieb nicht die einzige vom Calypso inspirierte Jazznummer in Rollins Repertoire.
Das Stück wird eröffnet durch (damals) ungewohnte Schlagzeug-Rhythmen von Max Roach, der auch mit einem ausgedehnten Solo aufwartet. Nach swingenden Sax- und Pianosoli finden die vier für das Schlussthema zurück zum Calypso.
Das balladeske «You Don't Know What Love Is» aus dem Great American Songbook, in dem Sonnys Tenorimprovisationen nur durch ein kurzes Pianosolo unterbrochen werden, präsentiert Rollins sanft-wilde Improvisationskünste. In der schnellen Bebop-Nummer «Strode Rode» kommen neben Rollins sowohl Tommy Flanagan als auch Max Roach zum Zug: Eine nur gerade vom Thema her «besprochene» Nummer mit viel Freiheit.
Danach wird Kurt Weills «Mack the Knife» einfach kurz in «Moritat» umbenannt. In den rund 10 Minuten hat es nun auch Zeit für ein erstes Bass-Solo. Zum Abschluss folgt ein 11 Minuten dauernder Blues. «Blue 7» wurde kurz nach Erscheinen von diversen Kritikern im Detail analysiert; so soll Sonnys Improvisation wegweisend für die weitere Entwicklung des Jazz gewesen sein.
Fazit
In diversen Ranglisten kursiert dieses Album als «eines der zehn wichtigsten Jazz-Alben überhaupt». Für mich ist es vor allem ein Zeitzeuge, ein Markstein in der Entwicklung des Jazz in mancherlei Hinsicht: Es markiert die Entwicklung des Tenorsaxophons im Allgemeinen und von Sonny Rollins im Speziellen. Auch macht es uns bewusst, wie sehr wir uns an aussergewöhnlich gute Musiker gewöhnt haben: Die musikalisch-rhythmischen Soli von Max Roach waren in den 50er-Jahren bahnbrechend. Wären sie es auch heute noch? Und Dough Watkins war ein «solider» Bassist, doch verglichen mit heutigen Bassisten eher unterdurchschnittlich. Tommy Flanagan war immer ein sicherer Wert und ist es auch hier.
Als Soundtechniker war Rudi Van Gelder über Jahrzehnte hinweg der unbestrittene Meister seines Fachs, dessen Aufnahmen auch heute noch überzeugen und auch nach einem Remastering beinahe unverändert klingen. Dieses Album ist keine Ausnahme; es ist jedoch auch nicht eines seiner überzeugendsten.
Trotz all meinen Einwänden bleibt «Saxophone Colossus» ein empfehlenswertes Sammlerobjekt für Jazzfans. Und nachträglich: Happy 90th Birthday, Sonny Rollins!