MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
14. Dezember 2021
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MEDIEN

«I just play the piano, but God is in the house, tonight», soll Fats Waller geäussert haben; ausgerechnet Fats Waller, den Art Tatum als eines seiner wichtigsten Vorbilder nannte.

Die Spieltechnik von Art Tatum war so unglaublich (und löst auch heute noch fassungsloses Staunen aus), dass sich diverse Pianisten ein anderes Instrument aussuchten, nachdem sie Tatum gehört oder gesehen hatten. Dazu soll der berühmte Gitarrist Les Paul gehört haben, aber auch Everett Barksdale, der Gitarrist des Art Tatum Trios. Und Oscar Peterson hatte mehrfach erwähnt, dass er sein Ziel, Art Tatums Technik zu erreichen, trotz täglichem Üben nie völlig erreicht habe.

Art Tatum

Im Gegensatz zu den meisten Jazzgrössen liebte Tatum keinen Rummel. Er wollte einfach spielen, am liebsten in kleinen Clubs und oft alleine. Er hatte auch keine Probleme mit verbotenen Drogen (eher aussergewöhnlich für Jazzmusiker in jener Zeit) und sein Privatleben war eben «privat».

Wir wissen, dass er 1909 in Toledo, Ohio, zu Welt kam, dass er seit seiner Geburt an Grauem Star litt und dass seine Sehkraft trotz einer Augenoperation mit 11 Jahren enorm eingeschränkt war.

Seine ersten Kontakte mit Musik dürfte er wohl in der Kirche gehabt haben. Schon früh begann er Klavier zu spielen, versuchte nachzuspielen, was er kurz zuvor gehört hatte. Und bald stellte sich heraus, dass er das «absolute Musikgehör» hatte und darauf bestand, dass sein Instrument regelmässig gestimmt wurde. Er lernte die Melodien, die er im Radio oder von Schallplatten aufgepickt hatte.

Mit 15 besuchte er die Blindenschule in Columbus, Ohio, kehrte kurz darauf wieder nach Toledo zurück, wo er die lokale Musikschule besuchte. Sein Klavierlehrer unterstützte jedoch weder Improvisation noch Jazz; deshalb wird angenommen, dass Tatum sich in diesen Sparten selbst weiterbildete. Seine grössten Vorbilder waren Fats Waller, James P. Johnson und Earl Hines.

Nachdem er 1927 einen Amateurwettbewerb gewonnen hatte, erhielt der 18-Jährige einen regelmässigen Job bei der lokalen Radiostation. Sein tägliches Programm wurde bald von anderen Stationen übernommen und steigerte seinen Bekanntheitsgrad. Die Nächte verbrachte Tatum in Jazzclubs, auch um andere Musiker zu hören und kennenzulernen.

Es dauerte jedoch bis 1932, bis der eher scheue Art Tatum als Bandmitglied der Sängerin Adelaide Hall nach New York kam und zum ersten Mal in einem Aufnahmestudio spielen konnte.

In den Jazz Clubs in Harlem fanden regelmässig Klavier-Wettbewerbe statt: Die besten der besten Stride-Pianisten wie Johnson, Waller und Willie «The Lion» Smith traten «gegeneinander» an. Art Tatum spielte an so einem Treffen seine Versionen von «Tea for Two» und «Tiger Rag», was zur eingangs erwähnten Bemerkung Wallers geführt haben soll. Waller und Tatum wurden gute Freunde, genossen das Leben … und tranken unglaubliche Mengen von Alkohol (Bier und Whisky), was – erstaunlicherweise – bei beiden keinen Einfluss auf die musikalische Qualität hatte.

Links Art Tatum im Vogue Room (NYC) ca. 1948 (Foto William P. Gottlieb), rechts oben der Umschlag meiner ersten Tatum-EP, Jazztone Records, damals exklusiv von Ex Libris in der Schweiz vertrieben.Links Art Tatum im Vogue Room (NYC) ca. 1948 (Foto William P. Gottlieb), rechts oben der Umschlag meiner ersten Tatum-EP, Jazztone Records, damals exklusiv von Ex Libris in der Schweiz vertrieben.

Nach diversen längeren Verträgen in Clubs in Los Angeles, New York und Chicago hatte Art Tatum 1939 seinen ersten Billboard-Erfolg mit seiner Soloversion von «Tea for Two». Sowohl seine Fingerfertigkeit als auch seine Musikalität waren legendär, doch war er stets bereit, Nachwuchstalente mit Ratschlägen zu unterstützen.

1943 gründete er sein erstes Trio mit Slam Stewart am Bass und Tiny Grimes an der Gitarre. Diese Formation war vor allem in Clubs erfolgreich. Doch in der Nachkriegszeit war es unvermeidbar, auch grössere Konzerte zu absolvieren. Er wurde für Norman Granz’ «Jazz at the Philharmonic»-Konzerte verpflichtet. 1947 spielte er gar in einem Film mit: «The Fabulous Dorseys».

1949 wurde sein Konzert im Shrine Auditorium in L. A. aufgezeichnet und von Columbia Records veröffentlicht. Im selben Jahr nahm er für Capitol Records 26 Stücke auf. Acht davon sind wohl auf dem besprochenen Album zu hören.
1951/52 arbeitete er wieder im Trio mit Slam Stewart. Diesmal war Everett Barksdale der Gitarrist.

1953 wurde Norman Granz, der Besitzer von Clef Records (später Teil der Verve Records), Art Tatums Produzent. Sein erstes Projekt war für damalige Zeiten aussergewöhnlich: Er lud Tatum ins Studio ein und liess ihn spielen, was er wollte, wofür er gerade Lust verspürte, während die Bandmaschinen alles aufzeichneten. In mehreren Sessions entstanden so 124 Solo-Tracks, von denen bis auf drei alle (verteilt auf 14 LPs) veröffentlicht wurden. Diese Aufnahmen kamen 1978 in die «Grammy Hall of Fame».

1954 stoppte Tatum seinen immensen Alkoholkonsum und versuchte auch sein Gewicht unter Kontrolle zu bringen. Er tourte als Teil einer Grossveranstaltung unter der Leitung von Stan Kenton und trat in der TV-Show von Spike Jones auf, eine der wenigen visuellen Aufzeichnungen von Tatum. 1956 verstarb Art Tatum an einer Niereninsuffizienz in Los Angeles.

«I Cover the Waterfront»

Obgleich es, wie schon erwähnt, eine beinahe unüberschaubare Menge von Alben gibt, wählte ich dieses sorgfältig restaurierte Album der BnF (Bibliothèque nationale de France). Einzig der Zusatz «Stereo-Version» trifft nicht zu, da diese Aufnahmen in einer noch monophonen Studiowelt entstanden und glücklicherweise nicht elektronisch pseudo-stereophoniert wurden. Dafür wurden die analogen Originalbänder als Hi-Res-Audio (24/96) digitalisiert, was zwar den Originalklang nicht verbessert, doch eine weitere Degradierung verhindern dürfte.

Acht der zwölf Stücke stammen von 1949 und sind Piano-Solos. Die vier übrigen sind drei Jahre jünger und wurden im Trio aufgenommen.

Somit wird diese Kompilation zu einer Art «Amuse bouche», um so mehr ich die einzigartigen Soli von Slam Stewart besonders hervorheben möchte: Wahrscheinlich als erster Bassist benützte er in den Soli den Bogen und summte unverwechselbar die gestrichene Bassmelodie mit – eine Eigenart, die seither (soviel ich weiss) von keinem Bassisten dermassen perfekt übernommen wurde. Schade, dass Stewart in diesen Aufnahmen zu stark im Hintergrund bleibt.

Diese damals neue Trio-Formation mit Gitarre und Bass wurde später von anderen Pianisten übernommen, am erfolgreichsten wohl vom Oscar Peterson Trio mit Ray Brown und Herb Ellis.

Fazit

Wie schon erwähnt, soll dieses «Versucherli» aus Art Tatums riesigem Schaffen zu weiteren Entdeckungen animieren. Abgesehen von der atemberaubenden Technik und Musikalität hört man auf diesen Aufnahmen bereits die modernen Reharmonisierungen – Akkorde, die eine neue Ära des Jazz ankündigten.

STECKBRIEF
Interpret:
Art Tatum, Piano
Besetzung:
Art Tatum, Solo-Piano
(8 Stücke)

Art Tatum, Piano
Slam Stewart, Bass
Everett Barksdale, Gitarre
(4 Stücke)
Albumtitel:
«I Cover the Waterfront»
Herkunft:
USA/Frankreich
Label:
BnF
Erscheinungsdatum:
1949/1952 – 2014
Spieldauer:
35:33
Tonformat:
FLAC 24-Bit 96 kHz
Aufnahmedetails:
Die Aufnahmen sind mono, auch wenn anders deklariert.
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
8
Klangwertung:
6
Bezugsquellen