Die Realität als Kriterium
Wichtig ist nun die komplementäre Frage, was denn ein Orchester oder eine Band für einen maximalen Dynamikumfang liefert, in der Realität im Konzertsaal und auf der Aufnahme, die wir in unserem Hörraum geniessen möchten.
Laut-Leise-Unterschiede sind ein Stilmittel in der Musik. Ein Komponist baut damit Spannung auf, will Bewegungen, Emotionen ausdrücken und auch gezielt auf einen musikalischen Höhepunkt hinarbeiten. Nicht jedes Musikgenre arbeitet gleich intensiv mit diesem Stilmittel. Auch kann ein Singer/Songwriter mit Gesang und Akustik-Gitarre nicht den gleichen Dynamikumfang erreichen wie eine Gruppe mit mehreren Instrumenten oder gar ein grosses Symphonieorchester.
Die Konzertrealität unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Heimmusikwiedergabe, was den Dynamikbereich angeht. Auch in der Tonhalle Zürich muss das Piano (nicht das Klavier, die leise gespielten Musikteile) in den hinteren Rängen noch hörbar sein. Die maximal schmerzfrei hörbare Lautstärke definiert der Mensch und nicht der Saal. So gesehen könnte die real spielbare Dynamik im grossen Saal sogar kleiner sein als auf einer Einspielung auf Tonträger (Schmerzgrenze der ersten Reihe und Hörfähigkeit für leise Töne in der hintersten Reihe).
Für elektrisch verstärkte Pop-Konzerte in Stadien gelten allerdings andere Realitäten, respektive geht es um Gehörschutz oder Ohrensausen am Tag nach dem Konzert. Gut, kann man im Wohnraum die Abhörlautstärke selbst bestimmen und so die auf der Aufnahme verfügbare Dynamik optimal wirken lassen.
Analyse
Bei der Musik sind Melodie, Harmonie, Rhythmus, Tonalität und Dynamik, verbunden mit der Darbietung und Interpretation, die wichtigsten Aspekte eines Musikstücks. Aber auch technische Gesichtspunkte wie Klangbalance, zugelassene Dynamik, Mischung, Mastering und der Einfluss des Aufnahme- und Distributionsformats wirken sich darauf aus, welchen Hörgenuss wir empfinden, ob Emotionen geweckt werden.
Und wir können all diese Aspekte bis zu einem gewissen Grad anhand von Grafiken und Zahlen bewerten und diskutieren. Dies mit einigen ausgesuchten Alben aus Pop, Jazz und Klassik. Der für diesen Artikel gewählte Umfang kann nicht repräsentativ sein, gibt aber einen klaren Hinweis, welchen Dynamikumfang bei Alben aus diesen Genres üblicherweise zu erwarten ist.
Wo wird am meisten und wo am wenigsten Dynamik geboten?
Zugegeben, ein etwas unfairer Titel, da je nach Grösse des Klangkörpers auch mehr Dynamikumfang möglich ist. Dynamikumfang darf aber nicht einfach auf maximale Lautstärke oder akustische Dichte reduziert werden. Es geht um die Differenz zwischen dem leisesten und dem lautesten Teil innerhalb eines Musikstücks, respektive der Entwicklung und Varianz der Lautheit innerhalb eines Musikstücks. Dass da bei einem typischen Pop-Song von rund dreieinhalb Minuten Spieldauer weniger Entwicklungsmöglichkeiten drin liegt als bei einem viel längeren Musikstück, ist der Gattung Lied geschuldet.
Eine Lautstärkezunahme kann kompositorisch durch Hinzufügen von weiteren Instrumenten/Stimmen oder spieltechnisch durch lauter spielen/singen (Crescendo) erreicht werden. Und logisch ist das auch in der Umkehrung als Decrescendo/Diminuendo so.
Schauen wir mal, wie das einer der Grössten der Musikgeschichte macht und wie das aufnahmetechnisch erfasst wird.
Klassik – Meisterwerke in zahlreichen Formen
Der Beginn des ersten Satzes von Beethovens Triplekonzert (Orchesterwerk mit drei Solisten: Klavier, Violine und Cello) ist ein Paradebeispiel für den dramaturgischen Aufbau eines Musikstückes. Im Folgenden betrachten wir die ersten 65 Sekunden des Stückes – was nur einen Teil der Einleitung ausmacht, der ganze Satz dauert rund 18 Minuten!
Grafik 1: Abgebildet die Dynamik-Struktur des ganzen Satzes anhand der Wellenform. Je höher der Ausschlag der grünen Linien um die Mittelachse, desto lauter die Passage.
Die Zeitachse im Bild oben läuft von links nach rechts. Zoomen wir auf der Zeitachse, sehen wir die Wellenform im Detail, wie die Rille einer Schallplatte, die ja ein mechanisches Abbild der Schallwelle ist. In dieser Hüllkurve sind alle Frequenzanteile des Musiksignals enthalten.
Grafik 2: Die ersten 65 Sekunden des Konzertes (33 Takte) haben einen Lautstärkeanstieg von insgesamt 39 dB! Dies ist von sehr leise bis laut im Hörraum, was am Ende einem Schalldruck von rund 85 dB im Hörraum des Autors entspricht.
In Grafik 2 sehen Sie oben die Pegel in dB und unten Beethovens Lautstärke-Angaben in der Partitur, die umfangreicher sind als hier dargestellt.
(dBFS* = durchschnittliche RMS-Amplitude des Messbereichs)
39 dB Lautstärkeunterschied im Wohnzimmer? Geht das, ist das erträglich? Kein Problem! Unser Gehör kann das verarbeiteten. Das Triplekonzert ist mit der Antonini-Aufnahme unseres Beispiels ein wahrer Hörgenuss: aufnahmetechnisch und von der Interpretation her. Takt 1 beginnt sehr leise mit den Celli und Kontrabässen. Das Klangtimbre ist fein wahrnehmbar. Auch im Fortissimo ist die Durchhörbarkeit gegeben. Ob die Spannweite dieser Aufnahme und der Detailreichtum auch wirklich hörbar sind, hängt natürlich auch von der Qualität des Audiosystems und von der Beschaffenheit des Hörraums ab.
Grafik 3: Gesamter Dynamikumfang des 1. Satzes. Merken Sie sich den Wert für die Loudness-Range, ganz unten in der Tabelle. Der Wert 18.0 LU (Loudness Units) gibt einen Anhaltspunkt über die wahrgenommene Lautheit unter Weglassung von Extremwerten.
Beethoven-Konzert mit knapp 40 dB Dynamikumfang in der Einleitung und einem gesamten Dynamikumfang von rund 60 dB für den ganzen 1. Satz – 90 dB wären machbar. Also kein Problem, selbst für ein grosses Orchester. Bleiben 36 dB Headroom bei der CD und sogar 84 dB im 24-Bit-Format. Overkill – nicht zwingend, doch mehr dazu später.
Grafik 4: Nur vier Streichinstrumente, dennoch kann der Dynamikumfang beträchtlich sein.
Schauen wir mal, was ein Streichquartett mit zwei Violinen und je einer Bratsche und einem Cello für einen Dynamikumfang produzieren kann: satte 37 dB im Extremfall (4. Satz, Presto). Alle vier Streicher spielen bei Minute 5:12 (Punkt -44,9 dBFS in der Grafik 4) sehr leise (pp) und mit reduziertem Tempo, um dann mit einem Crescendo das ursprüngliche Tempo (Presto) wieder aufzunehmen.
Unsere heutige Technik kann dies problemlos und akkurat abbilden. Da stört kein noch so feines Hintergrundrauschen, und der musikalische und lautstärkemässige Höhepunkt versinkt nicht in einem Klangbrei mit angestiegenen Verzerrungen. Um dies zu erreichen, brauchen wir eine Aufnahmetechnik mit genügend Headroom.
Jazz – ein Füllhorn an Stilen und Formationen
Die Fusion-Jazz-Band «Flim and The BB’s» machte in den frühen 80er-Jahren mit spektakulären Aufnahmen und sehr kreativen Musikstücken auf sich aufmerksam. Man erkannte und nutzte das Dynamikpotenzial der Digitalaudio-Technik. Tricycle: Klavier, Schlagzeug und Bass – clever arrangiert, präzise gespielt und sauber aufgenommen, zeigt das Stück, wie Klangdichte durch Spieltechnik und Instrumentierung anstelle der unsäglichen Dynamikkompression erzeugt wird.
Grafik 5: Tricycle von Flim & The BB’s – 17.7 LU Dynamikumfang ist selbst für Jazz ein sehr hoher Wert. Die Durchhörbarkeit ist selbst bei lauter Wiedergabe, dank der hervorragenden Aufnahme gegeben. Allerdings muss die Audiokette pegelfest sein!
Grafik 6: Tricycle von Flim & The BB’s. Aha! Ein Sample clippt. Ein einzelnes geclipptes Sample (ISP) ist kein Problem, aber dieses Beispiel zeigt das technische Verhalten der Digitaltechnik exemplarisch.