Wie immer bei Statistiken über die Entwicklung der Audio-Medien ist man gezwungen, sich am US-amerikanischen Markt zu orientieren. RIAA, Nielsen (so hiessen sie früher) und andere Institute liefern jährlich zuverlässige Erhebungen. 2021 war ein gutes Jahr für die Audio-CD: 46,6 Mio. Exemplare wurden in den USA verkauft. Das entspricht einem Wachstum von ca. 35 % gegenüber 2020.
Gegenüber 2019 ist allerdings kein Wachstum festzustellen. Der Vergleich mit 2020 hinkt, weil der Markt für Audio-CDs 2020 deutlich einbrach. Für einmal liegen die Gründe für den Einbruch auf der Hand: Covid-19 führte zur vorübergehenden Schliessung vieler POS (Point of Sales) für CDs. Der Onlinehandel war zwar nicht betroffen, konnte den Einbruch aber nicht auffangen. CDs werden vermutlich gerne im Laden gestöbert und gekauft. Man kann also bis dato nicht von einem Wachstum der CD-Stückzahlen sprechen, immerhin aber von einer Stagnation nach 17 Jahren freiem Fall. Seit 2018 sind die jährlichen Stückzahlen in den USA stabil, mit Ausnahme von 2020.
Ob man nun von einem globalen «Stagnations-Trend mit Wachstumschancen» sprechen darf? Das wäre verwegen: Mann weiss zum Beispiel, dass der CD-Absatz in UK 2021 nicht gewachsen ist. Verlässliche Daten für den ganzen Globus gibt es nicht.
The Big Picture
Wenn man sich die Audio-CD-Verkaufszahlen in den USA von 1984 bis 2021 ausrechnet, dann wurden in diesem Zeitraum ca. 14,6 Milliarden Audio-CDs verkauft – oder im Mittel 384 Mio. Audio-CDs pro Jahr. Die Bevölkerungszahl der USA liegt zurzeit bei 336 Mio. Menschen, davon sind schätzungsweise 230 Mio. kauffähig und kaufwillig. Im Mittel hätte jeder kauffähige und kaufwillige US-Amerikaner pro Jahr zwei Audio-CDs erworben. Die Betrachtung hinkt ein wenig, aber sie relativiert die Zahl von 14,6 Milliarden. Nicht berücksichtigt sind zum Beispiel die zeitlich versetzten und zusätzlichen Verkäufe von gebrauchten CDs, die vielen Kopien, die ab Mitte der 1990er-Jahre hergestellt wurden, sowie noch ein paar zusätzliche Faktoren.
Die Audio-CD ist auf jeden Fall in grosser Zahl verfügbar und in noch grösserer Zahl vorhanden. Von den rund 15 Mia. CDs dürften viele noch existieren, manche nur auf dem Dachboden. Wenn ich heute auf ebay.com «music cd» eingebe, erhalte ich 9,3 Mio. Angebote. Ähnlich wie Vinyl-Schallplatten ist auch die Audio-CD ein weit verbreiteter physischer Tonträger, den man neu oder gebraucht fast an jeder – physischen oder virtuellen – Ecke kaufen kann. In der Schweiz bekommt man Audio-CDs auch in den Brockenhäusern für GWG – ganz wenig Geld.
Wer ab ca. 1980 das Licht der Welt erblickt hat, erlebte die Audio-CD als wichtigstes Medium für Musik. Sie verdrängte zuerst die bespielte Tonband-Kassette und dann die Vinyl-Schallplatte. Wenn man nun einen bevorstehenden Boom der Audio-CD antizipiert, dann wären die quantitativen Voraussetzungen gegeben, sowohl seitens der Verfügbarkeit als auch der potenziellen Nachfrage.
Warum könnte die Audio-CD wieder attraktiv werden?
Die Argumente schiessen ins Kraut. John Darko nennt in einer seiner unterhaltsamen Videobotschaften gleich deren 15(!). Ich versuche die aus meiner Sicht relevantesten Argumente zusammenzufassen:
Die Audio-CD hat eine ähnliche Haptik und einen vergleichbaren Inhalt an Informationen über Musik und Künstler, wie die Vinylschallplatte. Das Ritual des Abspielens ist auch ähnlich. Aufbewahrung und Sichtbarkeit können mit Büchern im Bücherregal verglichen werden. Bücher und CDs strahlen eine gewisse Bildungsnähe aus. Man findet sich in CD-Sammlungen gut zurecht. CD-Sammlungen sind kleiner und übersichtlicher als die überbordende Musikauswahl der Streamingdienste und sie sind in der Regel über Jahre gewachsen. Künftige CD-Sammlungen würden sich auf dieselbe Weise entwickeln.
Die Audio-CD ist ein Offline-Medium. Man braucht für die Wiedergabe weder eine Internetverbindung noch ein funktionierendes Netzwerk. Die Audio-CD ist etwas, das man besitzt, das einem gehört. Sie ist stabil und wertig und dazu kostengünstiger als die Vinyl-Schallplatte. Die Audio-CD hat seit jeher einen festen Platz in der Hifi-Welt. Ihre Bedeutung hat im Hifi und High-End-Hifi zwar abgenommen, aber viele Musikhörer schätzen sie nach wie vor sehr. Die Vorteile der Klangqualität von Hi-Res-Musikdaten gegenüber der CD sind nicht unumstritten und die SACD wird auch immer noch gepflegt.
Audio-CDs haben in bestimmten und eher konservativen Musikgenres traditionell eine grössere Bedeutung als in progressiveren Musikgenres. Zu erwähnen sind Klassik und Volksmusik. Die Käuferzielgruppen sind der CD treu geblieben.
Dass Musiker vieler Stilrichtungen mit CD-Verkäufen besser verdienen als mit Musikstreaming mag als Argument zur Beruhigung eines schlechten Gewissens dienen. So wichtig scheint das Argument aber nicht zu sein, bedenkt man die Dominanz der Streamingdienste – allen voran Spotify.
Die Audio-CD ist so etwas wie die Vinyl-Schallplatte für alle, die Vinyl-Schallplatten nicht wollen. Das ist vielleicht auch bereits Wunschdenken.
Argumente, die gegen eine Audio-CD-Renaissance sprechen
Da sich viele Protagonisten und Brancheninsider eine solche Renaissance herbeiwünschen (weil es die Geschäftsmöglichkeiten erweitert), kommen die Argumente, die gegen eine Renaissance der Audio-CD sprechen, zu kurz.
Es gibt von der Audio-CD zur Vinyl-Schallplatte einen gewichtigen Unterschied: Die Audio-CD ist ein physischer Datenträger, digital und kopierbar. Vinyl ist ein analoger Tonträger. Die CD kann man beliebig kopieren. Man speichert sie ab, bewahrt sie auf, oder man gibt sie dem freundlichen Spender zurück. Man kann Vinyl nur kaufen, neu oder gebraucht. Bei Vinyl ist der Kauf zwingend, bei der CD nicht.
Die digitale Auflösung ist bei der Audio-CD eingeschränkt, aber viele qualitätsbewusste Musikliebhaber bevorzugen Hi-Res, also 24-Bit-PCM-Formate mit hohen Sampling-Raten oder auch DSD. Sie sagen sich: «Wenn schon digital, dann das Beste, das man kriegen kann». Dabei spielt der Unterschied bei der Klangqualität nicht immer eine dominante Rolle. Man will einfach das Beste und auf der sicheren Seite sein. Das bekommt man mit der Audio-CD nicht.
Wenn sich die Industrie für ein neues, physisches, digitales Medium entscheiden würde, dann wäre es wohl ein Datenträger, der eher wie eine SSD-Karte ausschaut. Auch diese könnte man hübsch verpacken und mit einem Booklet versehen. Ich glaube nicht, dass man es sich in Zukunft nochmals antun wird, «Bits» auf eine Silberscheibe zu pressen und dann mit einem Laser auszulesen. Die Audio-CD ist am Ende ihrer Entwicklung angelangt.
Aus Sicht der Abspielgeräte – also der CD-Player – gibt es noch keine nennenswerten Beschränkungen. Es gibt immer wieder neue Modelle, im High-End-Bereich ohnehin. Diese Kundschaft ist mit der CD/SACD aufgewachsen. Aber auch im Bereich Premium Audio gibt es immer wieder Hersteller, die sich für die Option der CD-Wiedergabe entscheiden.
Gefahr droht eher von den Herstellern der CD-ROM-Leser, die auch bei PCs und Laptops verwendet werden. Seit Jahren verwenden die Hersteller von CD-Playern diese CD-ROM-Leser. Wie lange werden CD-ROM-Leser noch hergestellt? Immer weniger Laptops und PCs benötigen einen CD-ROM-Leser und immer öfter werden PCs und Laptops durch Tablets und iPads ersetzt.
Wie stehen die Chancen für einen Audio-CD-Boom?
Aus den Verkaufszahlen 2021 in den USA allein kann man keinen Boom ableiten. Dafür braucht es ein eindeutiges Wachstum über mehrere Jahre. Der Vergleich mit dem Jahr 2020 hinkt.
Den Protagonisten wird in nächster Zeit bestimmt einiges einfallen, um eine Renaissance zu antizipieren. Sie werden es aber schwer haben, denn die Alleinstellung des Mediums «Audio-CD» ist im Vergleich zu der Vinyl-Schallplatte – auch bloss als Narrativ – nicht einfach hinzubekommen. Die Audio-CD hat eine weniger schmackhafte Gewürzmischung zu bieten.
CDs sind preisgünstiger, aber das zieht vielleicht gar nicht. Man staunt ja über die Preise von Vinyl-Schallplatten, die ihrer Attraktivität nichts anzuhaben scheinen.
Dass die Audio-CD aufgrund ihrer Verfügbarkeit (sowohl neu als auch gebraucht) nicht einfach von der Bildfläche verschwinden wird, aber dennoch keinen Boom erlebt, ist eher wahrscheinlich. Die Industrie unterstützt den Standard noch.
Und man findet viele CDs auch in Kisten verstaut und ungenutzt. Irgendjemand wird die Kisten eines Tages finden, öffnen und denken: «Why not?» Hoffentlich kann «irgendjemand» sie dann noch abspielen.