Zuerst sieht man ja meist das Cover eines Albums, dann hört man sich die ersten Takte des ersten Stückes an ... und glaubt dann, einen ersten Eindruck erhalten zu haben.
Wenn sich ein neues Album in einem Berg von möglichen zu rezensierenden Alben befindet, entscheidet man (entscheide ich) oft zu voreilig. Im aktuellen Fall benötigte ich einen zweiten Anlauf in ruhigeren Zeiten, um meine erste Fehleinschätzung zu realisieren.
Vielseitiges Talent
Ariel Pocock ist wesentlich mehr als ein hübsches Gesicht (auch wenn dies bei der Vermarktung hilft). Ihr Klavierspiel ist schlicht brillant, es passt sich perfekt dem jeweiligen Stil und der momentanen Stimmung an. «Living in Twilight» ist wesentlich mehr als ein Gesangsalbum mit Jazzeinflüssen, dies ist ein ausgewachsenes Jazzalbum mit Gesang.
Die Stückwahl ist vielseitig, verbindet alt und neu (von Cole Porter über Chick Corea bis Adele) – und doch ist jede Version neu, persönlich und überraschend, weit entfernt von den Originalen. Dazu kommen zwei überzeugende Eigenkompositionen «Gonzalo’s Melody» und «So Long».
Dass Ariel gerade mal 24 Lenze zählte, als das Album aufgenommen wurde, wird einem höchstens bei einigen Vokalinterpretationen wie etwa bei «Go Leave» bewusst, wo ich glaube, den Liebesschmerz einer jüngeren Person herauszuhören.
Und dass sie bereits im zarten Alter von 18 mit Jazzklavier-Interpretationen brilliert hatte, beweisen einige Youtube-Videos, die Erstaunliches offenbaren. Im Weiteren sprechen ihre Auftritte an internationalen Jazz-Festivals in Kanada, Japan und in den USA für sich.
Ideale Mitmusiker
Die beiden kanadischen Studiomusiker Jim Doxas (Schlagzeug) und Adrian Vedady (Bass) sowie der in New York lebende Gitarrist Chico Pinheiro ergänzen Ariel in idealer Weise: einfallsreich, bestimmt und klar, ohne je zu dominant zu wirken.
Hochstehende Musik mit passender Stimme
Auf 13 Stücken werden wir mit über einer Stunde faszinierender, qualitativ hochstehender Musik belohnt, die die diversen Facetten dieser jungen Pianistin mit der klaren Stimme präsentieren, ohne je in billigen Kommerz abzudriften.
Ariels Stimme hat verschiedene Klangfarben. Manche sprechen mich mehr an als andere. Gesang ist ja in der Musik das Persönlichste überhaupt, und in den meisten Fällen Geschmackssache. Es geht bei dieser Beurteilung nicht um modale Qualitäten, sondern um den persönlichen Ansprechfaktor einer Stimme.
Das Album bietet ein mehrheitlich sanftes Programm, das unsere Ohren umschmeichelt, doch mangelt es nie an Spannung. Und die sprudelnden Soli machen das Ganze zu einem (von mir nicht erwarteten) Leckerbissen.