MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
17. Januar 2024
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Waren Technologie-Wechsel früher ein starker Grund für eine Neueinspielung (Schellack > Vinyl, Mono > Stereo, CD > HiRes-Format), traten nach dem Millennium vermehrt interpretatorische Aspekte in den Vordergrund. Historisch informierte Interpretationen nach Erkenntnissen der Musikforschung (Urtextausgaben) oder veränderte Auffassungen über den Einsatz der Stilmittel (z. B. Vibrato oder Tempi) sind heute Motivation für eine Neuaufnahme.

Brahms’ ringen mit den grossen Formaten

Beethoven prägte bis spät ins 19. Jahrhundert hinein viele Komponisten, die sich fragten, ob man das Format der Symphonie und des Konzerts noch weiterentwickeln kann. Was neu herauskam, wurde unweigerlich mit Beethoven verglichen. So rang auch Johannes Brahms (1833–1897) lange, ehe er sich an die Komposition der komplexesten Formate heranwagte. Dies ist bei Brahms besonders ausgeprägt, da er ein Traditionalist war und sich nicht einfach von Konventionen lossagte, was ihm auch die Kritik der Rückständigkeit einbrachte (Liszt, Wagner). Mit der Tradition zu brechen ist einfacher als die Entwicklung einer etablierten, als ausgereizt geltenden Form.

Von diesem Ringen zeugt auch der Entstehungszeitraum der beiden Brahms-Klavierkonzerte. Frühe Skizzen des ersten Konzerts (D-Moll, Op. 15) entstanden 1854, vollendet wurde es erst 1859. Beim Zweiten in B-Dur Op. 83 dauerte die Arbeit drei Jahre bis zur Uraufführung 1881.

Obwohl die beiden Konzerte entstehungsgeschichtlich rund 20 Jahre auseinanderliegen, sind sie stilistisch nah beieinander. Beide haben eine Aufführungsdauer von rund 50 Minuten und beeindrucken durch ihre grossartige Klangfülle und Stimmungswechsel. Beide folgen der für die damalige Zeit bereits als traditionell wahrgenommenen Sonatenhauptsatzform, was sich durch intensive Motivarbeit manifestiert.

Brahms eigen sind die grossen Dynamiksprünge und der Wechsel zwischen leisen, lyrischen Momenten, die unmittelbar mit einem Dynamiksprung in eine dramatische, ja geradezu bedrohlich düstere Stimmung kippen kann. Ein Beispiel dazu liefern die Einleitung und der Klaviereinsatz im ersten Satz des ersten Klavierkonzerts.

Brahms verbrachte in den 1880er-Jahren mehrmals Sommerferien in Thun und komponierte dort Werke wie das Klaviertrio Op. 101. Bild: Der junge Brahms, Schloss Schadau in Thun (Thun-Thunersee Tourismus).Brahms verbrachte in den 1880er-Jahren mehrmals Sommerferien in Thun und komponierte dort Werke wie das Klaviertrio Op. 101. Bild: Der junge Brahms, Schloss Schadau in Thun (Thun-Thunersee Tourismus).

Die Evolution des zweiten Klavierkonzerts

Trotz der Formwahrung der Wiener Klassik – der gebürtige Hamburger Johannes Brahms übersiedelte 1871 endgültig nach Wien – bricht das zweite Klavierkonzert mit der dreisätzigen Konzertform. Der langsame Mittelsatz – ja, der mit der wunderbaren Cello-Kantilene – folgt an dritter Stelle vor dem Schlusssatz.

Schon die ersten Takte des Konzerts lassen erahnen, dass nun etwas wirklich Aussergewöhnliches kommt, kein Ablauf der gewohnten Art. Ein B-Horn eröffnet mit der Motivzelle des ersten Satzes das Konzert. Bereits im zweiten Takt setzt das Klavier mit einem Lauf und Motivrepetition ein. Ab Takt 6 setzen die Bläser und kurz darauf die Streicher für wenige Takte ein, worauf ab Takt 11 das Klavier solistisch einen ganzen Stimmungsbogen setzt, mit Tempo und Dynamikvariationen.

Eine erste motivische Verarbeitung, die ab Takt 29 mit einem Orchestertutti endet, öffnet so zum ersten Mal dem ganzen Orchester die Bühne. Der zweite Satz ist als Scherzo mit Trio gestaltet, virtuos und vorwärtsdrängend. Der Schlusssatz ist ein typisches Rondo Finale mit perlenden Klavierläufen und wunderbaren lyrischen Momenten.

Dieser 4. Satz soll uns bei den Interpretations- und Aufnahmevergleichen als Referenz dienen, da er durch das schnelle Tempo, die Tempowechsel sowie die stilistische Vielfalt ein ideales Vergleichsobjekt ist.

Brahms am Flügel, Gemälde von Willy von Beckerath.Brahms am Flügel, Gemälde von Willy von Beckerath.

Simon Trpčeski, Cristian Măcelaru und das WDR-Sinfonieorchester

Der Pianist Simon Trpčeski wurde 1979 in Mazedonien geboren und ist Absolvent der Musikfakultät der Universität St. Cyril und St. Methodius in Skopje. Er war von 2001 bis 2003 BBC New Generation Artist und wurde 2003 von der Royal Philharmonic Society mit dem Young Artist Award ausgezeichnet. Ebenfalls ein herausragender Musiker der jüngeren Generation ist der rumänische Dirigent Cristian Măcelaru, der seit der Spielzeit 2019/20 Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters und seit September 2020 Directeur musical des Orchestre National de France ist.

Die hier präsentierte neuste Einspielung der beiden Brahms-Klavierkonzerte ist auf hohem spielerischem Niveau mit gelungener Orchesterintegration. Simon Trpčeskis Spiel ist auffallend klar und gekennzeichnet durch kurze Anschläge mit hellem Klavierklang. Die Brahms-Konzerte erinnern so klanglich an die Tonalität der Saint-Saëns-Klavierkonzerte. Das zweite Klavierkonzert ist tempomässig eher langsam gespielt, was der Live-Performance geschuldet sein kann.

Heute ist eine Live-Aufnahme nicht mehr an Nebengeräuschen wie Hustern erkennbar. Moderne Reparatur-Software wie iZotope RX können solche Störelemente ohne wahrnehmbare Klangbeeinträchtigung entfernen. Das Orchester wirkt bei dem langsameren Tempo eher verhalten. Sehr schön herausgearbeitet sind die lyrischen Stellen mit dezentem Bläserpart. Eine Interpretation weniger auf der dramatischen Seite. Die Stärken liegen in den feinfühligen, lyrischen Parts.

Da Brahms seine Partituren detailliert mit Interpretationsanweisungen ausstattet, sind die Interpretationsdifferenzen bei diesen Konzerten kleiner, als dies bei Werken aus früheren Epochen der Fall ist. Man muss somit die Unterschiede an vielen Feinheiten herausschälen. Eine Ausnahme ist die Live-Aufnahme des ersten Klavierkonzerts mit Glenn Gould (6. April 1962), bei der Leonard Bernstein als Dirigent das von Gould gewählte, extrem langsame Tempo als kontrovers erklärt.

Auffallend ist, dass im 4. Satz des zweiten Klavierkonzerts die zwei prägnanten Triller in Takt 115 und 116 (ungefähr bei Minute 2:18, je nach Aufnahme) bei einigen wenigen Interpreten weggelassen werden, so fehlen sie auch in der Trpčeski-Aufnahme. Warum dies gemacht wird, ist für den Autor nicht nachvollziehbar, da diese Triller eine Funktion haben und nicht nur einfache ad-libitum-Verzierungen sind.

Die Aufnahme mit Simon Trpčeski

Das Album als Ganzes wirkt – trotz der unterschiedlichen Aufnahmesituation mit und ohne Publikum – etwas hochtonarm, sofern es den Orchesterklang betrifft. Das Klavier ist präsenter und mittig zwischen den Lautsprechern positioniert. Die Tiefenstaffelung des Orchesters erreicht nicht das heute Machbare, was aber auch mit dem Aufnahmeraum begründet sein kann. Und wie erwähnt, dass das zweite Konzert ein Live-Mittschnitt ist, merkt man in keiner Weise.

Ein generelles Problem bei nahezu allen Aufnahmen sind die kaum hörbaren Bläser bei Orchestertuttis.

Frequenzanalyse des 4. Satzes von Op. 83. A: Das Spektrum reicht bis knapp über 30 kHz. B: Die nachbearbeitete Live-Aufnahme zeigt stellenweise deutliche Rauschanteile oberhalb von 23 kHz. C: Der Rauschpegel liegt bei -95 dB.Frequenzanalyse des 4. Satzes von Op. 83. A: Das Spektrum reicht bis knapp über 30 kHz. B: Die nachbearbeitete Live-Aufnahme zeigt stellenweise deutliche Rauschanteile oberhalb von 23 kHz. C: Der Rauschpegel liegt bei -95 dB.
Zum Vergleich: Die Aufnahme des 1. Klavierkonzertes des Trpčeski-Albums zeigt ein rauschfreies Spektrum. Mit welchen Tools das 2. Klavierkonzert nachbearbeitet wurde, ist nicht feststellbar.Zum Vergleich: Die Aufnahme des 1. Klavierkonzertes des Trpčeski-Albums zeigt ein rauschfreies Spektrum. Mit welchen Tools das 2. Klavierkonzert nachbearbeitet wurde, ist nicht feststellbar.
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