MUSIKREZENSION
ARTIKEL
Publikationsdatum
1. Dezember 2019
Themen
Drucken
Teilen mit Twitter

Wenn Ihre Reaktion folgende ist: «Lennie Niehaus? Nie gehört.» Dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kompositionen oder zumindest Arrangements von Lennie Niehaus Ihre Trommelfelle irgendwann einmal erreichten, riesig ist. Schliesslich hat er – nach seinen Jazz-Erfolgen in den 50er- Jahren – die Musik zu über 50 Hollywoodfilmen geschrieben und in dieser Sparte eng mit Clint Eastwood zusammengearbeitet.

Doch hier sollen uns vor allem seine kreativen 50er-Jahre als Altsaxofonist und Arrangeur beschäftigen. Die Zeugen davon sind in mehreren Versionen, Kompilationen und Varianten im Download- und Streamingangebot zu finden.

Lennie Niehaus

Lennie wurde am 1. Juni 1929 in St. Louis, Missouri, geboren. Sein Vater Père Niehaus war Violinist in einem 60-Mann-Orchester, das live Musik zu Stummfilmen spielte, seine Schwester Konzertpianistin. Als in Hollywood die Tonfilm-Ära begann und Musiker für die neuen Orchester gesucht wurden, packte Père Niehaus, der ursprünglich aus St. Petersburg stammte, die Gelegenheit und zog mit seiner Familie nach Los Angeles.

Lennie begann mit sieben Jahren, Violinen-Unterricht bei seinem Vater zu nehmen, entdeckte jedoch kurz darauf seine Liebe zu Blasinstrumenten – vor allem Rohrblattinstrumente – und entschied sich zuerst für Oboe, dann fürs Fagott. Mit 13 wechselte er zu Saxofon und Klarinette und begann seine ersten Kompositionsarbeiten.

Mit 21 schloss er seine Musikstudien am Los Angeles State College ab und begann kurz darauf seine musikalische Karriere als Arrangeur und Altsaxofonist im damals erfolgreichen Orchester von Phil Carreón, wo er auf Mitmusiker wie Herb Geller und Teddy Edwards stiess.

1952 kam die Gelegenheit zur Karriere: Stan Kenton engagierte ihn für sein Orchester. Doch bereits nach sechs Monaten wurde Niehaus in die Armee eingezogen, wo er zum ersten Mal mit Clint Eastwood zusammentraf. Nach seiner Entlassung 1954 spielte, komponierte und arrangierte er während fünf Jahren bei und für Kenton, stellte daneben für persönliche Projekte seine eigenen, kleineren Gruppen zusammen, die auf dieser Kompilation zu hören sind.

1959 verliess er das Kenton Orchester, um sich mehr und mehr auf Studioarbeiten – vorwiegend Kompositionen und Arrangements für bekannte Sängerinnen und Sänger wie Mel Tormé, Carol Burnett und Dean Martin – zu konzentrieren.

1962 begann er für den Filmmusikkomponisten Jerry Fielding zu arbeiten, arrangierte und orchestrierte dessen Kompositionen für unzählige TV-Shows und einige Filme (z. B. «Straw Dogs» von Sam Peckinpah mit Dustin Hoffman), schrieb und orchestrierte daneben auch seine eigene Filmmusik.

In den 80er-Jahren begann die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Clint Eastwood.In den 80er-Jahren begann die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Clint Eastwood.

Dann folgten die vielen Produktionen mit und für Clint Eastwood, der selbst (auch) Musiker und Jazz-Liebhaber ist. Ab 1985 war Lennie Niehaus sozusagen der Hofkomponist von Clint Eastwood, und wenn Eastwood ab und zu die Titelmelodie komponierte, so war es immer Niehaus, der diese arrangierte und den Rest des Scores beitrug.

Ob «Mystic River», «Unforgiven», «Blood Work», «The Rookie», «Space Cowboys», «Bird» oder «Gran Torino»: In unzähligen Filmen hören wir (meist unbewusst) die Musik von Lennie Niehaus, die ihm diverse Nominationen (u. a. BAFTA) und einen Primetime Emmy Award einbrachte.

Die Klänge aus «Mystic River» zeigen die sanfte und romantische Seite von Lennies Kompositionen.

Und hier ein Eindruck von Lennie Niehaus’ Filmmusik aus «The Rookie» mit Clint Eastwood und Charlie Sheen. Nicht nur der Rhythmus, auch die Instrumentenwahl (tiefe Register) betonen die Bedrohlichkeit und erzeugen Spannung. Die Musik beginnt erst nach rund 40 Sekunden.

Und nun feierte Lennie Niehaus also seinen 90. Geburtstag.

«The Complete Fifties Recordings»

Nur wenige LeserInnen werden sich erinnern, dass es neben den üblichen 30-cm-LPs, den Singles und den EPs gleichen Durchmessers zusätzlich 25-cm-LPs mit einer verkürzten Spieldauer gab. Eine solche besass ich als Gymeler, und zwar die Contemporary C2513 «Lennie Niehaus Vol. 1 – The Quintet».

Das Label Contemporary Records wurde 1951 von Filmproduzent und Drehbuchautor Lester Koenig gegründet und konzentrierte sich auf West Coast Jazz. Koenig hatte u. a. Jazzgrössen wie Art Pepper, Chet Baker, Shelly Manne und André Previn unter Vertag.Das Label Contemporary Records wurde 1951 von Filmproduzent und Drehbuchautor Lester Koenig gegründet und konzentrierte sich auf West Coast Jazz. Koenig hatte u. a. Jazzgrössen wie Art Pepper, Chet Baker, Shelly Manne und André Previn unter Vertag.

Wie der Titel erahnen lässt, waren weitere Volumes erhältlich, fünf im ganzen, plus «I swing for you» («Zounds» war ein mit zusätzlichen Oktett-Aufnahmen erweitertes Vol.2).

Alle Aufnahmen, die zwischen 1954 und 1957 entstanden und auf Contemporary Records erschienen, sind nun in einer Kompilation mit dem passenden Titel «Lennie Niehaus – The Complete Fifties Recordings (Bonus Track Version)» erhältlich. Zwar sah ich, dass dieses Album vor drei Jahren als «24-bit remastered»-Version erschienen sein soll, doch konnte ich es nirgends finden.

Das Quintett war nicht immer dasselbe: Einmal bestehend aus drei Saxofonen, Bass und Schlagzeug, ein andermal aus Altsax, Trompete, Klavier, Bass und Schlagzeug. In einem Interview gefragt, wieso die drei Saxofone nach mehr klingen, erklärte Niehaus, dass er schon damals mit Obertönen experimentierte und seine Harmonien so arrangierte, dass die dadurch entstehenden Obertöne die Akkorde zu ergänzen schienen und somit den Eindruck vermittelten, aus mehr als drei Tönen geformt zu sein.

Auch die Oktettformationen hatten diverse Zusammensetzungen, doch die Unterschiede in Klangeindruck, Art der Musik und Virtuosität der Musiker sind minim. Viele Soli zeigen klare Einflüsse von Charlie Parker und der ersten Bebop-Welle. Die meisten sind von überragender technischer Brillanz, zwar teilweise wild, jedoch eben eher geschliffen «cool», wie es im West Coast Jazz üblich war.

Klang und mehr

Der Gesamtklang der Sammlung ist erstaunlich gut, weist zwar nicht die Dynamik heutiger Aufnahmen auf, unterstreicht jedoch den Charakter des damaligen Cool Jazz.

Gewiss: Es werden (aus heutiger Sicht) keine Stricke zerrissen, keine krampfhaften Neuerungsversuche unternommen. Doch Niehaus’ Arrangements von bekannten Standards erweitern die Melodien, hauchen Oftgehörtem neues Leben ein, sind gefällig, ohne billig zu wirken, denn schliesslich ist Niehaus ein Perfektionist, der ausschliesslich technisch vollkommen gespielte Arrangements akzeptierte und auch die entsprechenden Musiker für seine Projekte ins Studio brachte.

Mein damaliger Gymer-Jazzkumpel fand diese Musik zu perfekt, zu akademisch, zu «weiss», zu frei von Experimenten und Gefühlsausbrüchen … und deshalb langweilig. Für mich lag und liegt die Faszination in der harmonischen Umsetzung, die aus verhältnismässig einfachen Melodien komplexe Klanggebilde entstehen lässt, Arrangements, die überraschende «Umwege» eingehen und das Leben der kalifornischen Mittelschicht der 50er-Jahre, wie es uns in den Hollywoodstreifen gezeigt wurde, widerspiegeln.

Fazit

Die Kompilation «The Complete Fifties Recordings (Bonus Track Version)» bietet beinahe fünf Stunden West Coast Jazz vom Feinsten, ist abwechslungsreich und entspannend.

West Coast Jazz mag für viele Jazzliebhaber zu brav klingen, zu wenig Neues, Aufregendes beinhalten. Und doch war und bleibt diese eher intellektuelle Musik wichtiger Bestandteil der weiteren Entwicklung des Jazz. Natürlich sind die Aufnahmen des Gerry Mulligan Quartett bekannter, scheinen Namen wie Art Pepper und Chet Baker wichtiger, doch für mich beinhalten die vorliegenden Lennie-Niehaus-Alben ein Stück faszinierende Jazzgeschichte.

Zudem finde ich erwähnenswert, dass Lennie Niehaus zwar nie den Bekanntheitsgrad der oben erwähnten West-Coast-Musiker erreichte, doch auch nie Schlagzeilen wegen Affären oder Drogenexzessen machte, sondern nur wegen seiner musikalischen Erfolge gefeiert wurde – allerdings meist im Hintergrund.

STECKBRIEF
Interpret:
Lennie Niehaus
Besetzung:
Verschiedene Variationen mit den damals bekanntesten Musikern der Westküste.
Albumtitel:
«The Complete Fifties Recordings (Bonus Track Version)»
Herkunft:
USA
Label:
Jazz Lovers/Phono
Erscheinungsdatum:
1957/2016
Spieldauer:
4:52:19
Tonformat:
CD
Aufnahmedetails:
Ursprünglich auf sieben LPs zwischen 1954 und 1957 entstanden, in verschiedenen Kompilationen, aber auch einzeln erhältlich.
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
7
Klangwertung:
6
Bemerkung:
Die 24-bit-Version auf dem Label Phono scheint (momentan) nicht erhältlich zu sein.
Bezugsquellen