In meiner CD-Sammlung befinden sich mehrere sogenannte Christmas-Alben, die unterschiedliche Versionen der allgemein beliebten, amerikanischen Weihnachtslieder beinhalten. «Jingle Bells», «Rudolph the Red Nosed Reindeer», «Santa Claus is Comin' to Town», Nat King Coles «The Christmas Song» (Chestnuts roasting on an open fire) oder gar «Silent Night» gibt es als Jazz-, Pop- oder Rockversionen, von Ella Fitzgerald und Ray Charles über Mariah Carey bis Robbie Williams und natürlich auch von Englands liebstem Kanadier Michael Bublé, dessen Weihnachtsalbum «Christmas» von 2011 regelmässig die UK-Dezember-Charts anführt.
Als ich nun hörte, dass Jamie Cullum eben ein neues Weihnachtsalbum veröffentlicht habe, dachte ich sogleich an weitere Coverversionen der oben erwähnten Xmas-Songs. Auch, weil mir bekannt war, dass er 2018 schon mal eine Version von «All I Want for Christmas is You» präsentiert hatte. Umso erfreuter war ich zu sehen und vor allem zu hören, dass keines der zehn Lieder zu den altbekannten Gassenhauern gehörte, sondern alles Eigenkompositionen waren.
Jamie Cullum
Privates will ich hier über Jamie Cullum nicht breitschlagen, gehört er doch zu jenen Jazz&Pop-Stars, die in der (vor allem englischen) Regenbogenpresse zur Genüge erwähnt werden. Hier nur das Wichtigste und musikalisch Relevante: Der heute 41-Jährige erlangte 2003 internationales Ansehen mit seiner (immer noch empfehlenswerten) CD «Twentysomething», die platiniert wurde. Cullum wurde Ende 2003 zum «UK's biggest selling Jazz artist of all time» gekürt.
Obgleich er vorwiegend als Jazzmusiker betrachtet wird, gilt seine Musik als Crossover aus verschiedenen Stilen. Cullum ist ein exzellenter Entertainer, ein versierter Pianist und Sänger mit sofort erkennbarer Stimme, spielt jedoch auch Gitarre und Schlagzeug – und er komponiert und arrangiert, zum Beispiel die Filmmusik für Clint Eastwoods «Gran Torino», für den er auch gleich den Titelsong interpretierte. Zudem hat er eine wöchentliche Radioshow auf BBC Radio 2, für die er 2014 mit dem «Best Music Programme Award» ausgezeichnet wurde.
«The Pianoman at Christmas».
Dies ist Jamie Cullums neuntes Album. «Meine Frau ermunterte mich immer wieder, ein Weihnachtsalbum mit neuen Liedern zu machen. Wegen dem Lockdown hatte ich nicht nur viel Zeit für meine Familie, sondern wegen der abgesagten Tournee auch für neue Musik. So entstand dieses Album nicht zuletzt wegen der Pandemie.» Und: «In eigenen Weihnachtsliedern kannst du alles reinpacken, was du auch in normalen Liedern ausdrücken würdest, nur musst du noch etwas Schnee und ein paar Mistelzweige beifügen. Doch dann wird dir auch der Wunsch nach dem grössten Orchester mit Chor gewährt.»
Jamie berichtet in einem Interview, wie er sich durch bestehende Geschichten von Charles Dickens bis Frank Capra und von Gesprächsfetzen mit Freunden über die Bedeutung von Weihnachten zu den Texten inspirieren liess. Sein Lieblings-Weihnachtslied aller Zeiten ist und bleibt Nat King Coles «The Christmas Song», aber nur in der Originalversion.
Das Eröffnungslied «It’s Christmas» bringt uns so richtig in Stimmung für Kommendes, swingend mit einem enormen Big-Band-Arrangement à la Billy May.
Ruhiger, mit funkelnden Klaviereinwürfen, geht es weiter mit «Beautiful, Altogether».
Bei «Hang Your Lights» geht wiederum die Post ab: Das Sax-Solo und das Damen-Chörli drücken diesem Stück wieder einen völlig anderen Stilstempel auf, der die besinnliche Note der Weihnachtszeit vergessen lässt. «The Jolly Fat Man», der Weihnachtsmann, der in unserer (meiner) Tradition noch nicht Einzug hielt – bei uns sind es immer noch der Samichlaus und der Schmutzli, die am 6. Dezember ihre Aufwartung machen – bringt das Schmunzeln anregende Fingerschnippen zurück.
In «The Pianoman at Christmas» klingen Erinnerungen an seine ersten Jahre als Pianist, der in vielen Bars spielt und Weihnachtsliederwünsche erfüllen muss. Hier floss auch die Szene aus «The Fabulous Baker Boys» ein, in welcher der Pianist (Jeff Bridges) zur Sängerin (Michelle Pfeiffer) sagt: «I thought I could be your man, but I’m just the piano man at Christmas», was zum Titel führte. «Turn on the Lights» offenbart Cullums Bewunderung für Billy Joel, dessen Stil er hier teilweise übernimmt.
Die Entdeckung der restlichen Songs überlasse ich Ihnen. Die Melodien sind anspruchsvoller, die Texte tiefgründiger als bei den unzähligen bekannten Weihnachtsalben – und zwar ausnahmslos.
Und dass Jamie Cullum auch ganz alleine am Flügel, ohne Grossorchester im Hintergrund, beeindruckt, zeigt das folgende Video:
Fazit
Erfrischend neu, jazzy, abwechslungsreich, mit passenden musikalischen und textlichen Weihnachtselementen. Doch «The Pianoman at Christmas» verbreitet nicht nur an Weihnachten Freude. Jamie Cullum gelang es, ein Album voller schöner Überraschungen zu schaffen, das mitreisst, aber zum Schluss auch berührt («How Do You Fly?», «Christmas Caught Me Crying»).
Falls dennoch eine Kritik einfliessen soll: Für meine Ohren ist die Qualität der Abmischung/des Masterings nicht konsistent: Es gibt hervorragend klingende, aber auch nur mittelmässig abgemischte Stücke, weshalb ich bei der Klangqualität einen Abzug machte. Doch das schränkt meine absolute Empfehlung nicht ein.