MUSIKREZENSION
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Publikationsdatum
5. Februar 2020
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Im Frühling 2017 verkündete Gary Burton, dass er nach der kurzen Tournee mit seinem langjährigen Mitmusiker, dem Pianisten Makoto Ozone, welche die zwei durch die USA und Japan führte, seine musikalischen Tätigkeiten aufgeben werde. In einem Interview erklärte er dazu, dass er nicht mehr das notwendige Selbstvertrauen habe, das ihn seine Auftritte geniessen lasse. Mehr und mehr habe er «senior moments» (etwa «altersbedingte Aussetzer»), bei denen er für eine oder zwei Sekunden nicht mehr wisse, wo er sich im Stück befinde … Und nein, er glaube nicht, dass es Alzheimer oder Demenz sei, sondern einfach die Vergesslichkeit des Alters. Auch spüre er, dass seine Musik qualitativ nicht mehr gleich gut sei wie früher.

Er setzte seine Ankündigung um und lebt seither zurückgezogen in Südflorida.
Wenige Menschen können auf eine dermassen vielseitige und aufregende Karriere zurückblicken wie er.

Gary Burton

Am 23. Januar 1943 in Anderson, Indiana als zweites von drei Kindern geboren, hatte Gary als Sechsjähriger seine ersten Marimba- und Vibraphonlektionen und erhielt von seiner damaligen Lehrerin auch die Grundlagen der Harmonielehre.

Nach dem Umzug der Familie ins Provinzkaff Princeton (Indiana), mit einem eigenen Vibraphon und bereits etlichen «Trophys» war Gary auf sich selbst gestellt, da es in der näheren Umgebung keinen Vibraphonunterricht mehr gab.

Dank der Unterstützung durch seine Familie (vor allem seinem Vater) und einem hervorragenden Klavierlehrer, der ihn in die «Geheimnisse» der Harmonielehre und des Jazz einführte, erhielt Gary nicht nur eine gute musikalische Grundausbildung, sondern auch Auftrittroutine als Pianist und ab und zu als Vibraphonist. Nach einer College Jazz-Klinik mit Stan Kenton war für ihn klar: Weder Ingenieur noch Mediziner – Jazzmusiker war sein Traumberuf.

1960, also 17-jährig, machte er seine ersten Schallplattenaufnahmen in Nashville für und mit Hank Garland (Gitarre). Ein Jahr später wurde er von RCA zu einer Trioaufnahme aufgemuntert. Mit Gene Cherico (Bassist u. a. beim Maynard Ferguson Quartet) und Joe Morello (vom Dave Brubeck Quartet) standen ihm zwei erfahrene Mitmusiker zur Verfügung. Die LP kam unter dem Titel «New Vibe Man in Town» auf den Markt und war die erste von 12 LPs, die Gary in den folgenden acht Jahren für RCA aufnahm.

Der 18-jährige Gary auf der Rückseite seiner ersten LP unter eigenem Namen für RCA.Der 18-jährige Gary auf der Rückseite seiner ersten LP unter eigenem Namen für RCA.

Nach eineinhalb Jahren am Berklee College of Music, wo er vorwiegend Jazz-, aber auch klassisches Klavier studierte, da es keinen Vibraphonkurs gab, und sich in Improvisation weiterbildete, begab er sich 1963 mit George Shearing auf Tournee. Von 1964 bis 1966 war er bei Stan Getz engagiert (siehe Oldies but Goodies # 14).

Mit einem eigenen Quartett begann er danach Fusion-Neuland zu erforschen, indem er und seine drei Mitmusiker Themen aus Rock und Pop übernahmen, diese jedoch mit Jazzelementen (komplexe Harmoniefolgen und Improvisation) neu interpretierten. Ein Album aus jeder Zeit ist z. B. «Duster».

1969 wurde er vom Down Beat Magazine als «Jazzman of the Year» geehrt.
1971 erhielt er für seine am Montreux Jazz Festival aufgezeichnete LP «Alone at last» seinen ersten Grammy. Vier weitere folgten nach wenigen Jahren für seine Zusammenarbeit mit Chick Corea, die vor allem von Manfred Eicher (ECM Records) initiiert worden war. Gary Burton nahm von 1973 bis 1988 sechzehn Alben für ECM auf.

Seine Laufbahn als Musiklehrer für Perkussion und Improvisation begann er Anfang der 70er-Jahre am Berklee College of Music, das ihn 1985 zum «Dean of Curriculum» ernannte und ihm 1989 den Ehrendoktortitel verlieh. 1996 wurde er zum «Executive Vice President» des Berklee College.

Ausschnitt aus dem Buchcover der Autobiografie.Ausschnitt aus dem Buchcover der Autobiografie.

Neben seinen College-Verpflichtungen fand Gary Burton stets genügend Zeit für neue musikalische Abenteuer, hatte ab 1988 ein Vertrag mit GRP Records, für die er acht Alben aufnahm. Danach wechselte er zu Concord Records (1997 «Departure»), und machte – nach Ausflügen in die Welt des Tangos mit Astor Piazolla – weitere Duo-Aufnahmen mit Chick Corea.

Zusammen mit dem Pianisten Makoto Ozone versuchte er (erfolgreich, mit einer Grammy-Nomination in der Abteilung Klassische Musik) die Improvisation in Klassische Werken von Brahms, Scarlatti, Ravel, Barber u.na. einzubauen.

2003, nach 33 Jahren am Berklee College of Musik, zog er sich aus dem Lehrberuf zurück und gründete mit jungen Talenten die «Generations»-Band, mit der er, in unterschiedlichen Zusammensetzungen, drei Jahre lang die Welt bereiste.

In dieser Hommage all seine Kollaborationen, Alben und Tätigkeiten aufzuzählen, würde zu weit führen, denn Gary Burton hat über 60 Alben unter seinem Namen aufgenommen und auf vielen weiteren mitgewirkt. Auf Youtube gibt es jedoch unzählige Konzertauftritte und Interviews zu bewundern. Hier ein kleines «Amuse Bouche»:

«New Vibe Man in Town»

Aus der beinahe unüberschaubaren Menge von Alben wählte ich dieses, da es einerseits sein erstes war (und schon damals seine völlig neue Art Vibraphon zu spielen aufzeigt) und anderseits eine der wenigen RCA-Produktionen ist, die remastered und als HiRes-Download erhältlich sind (auch die meisten ECM-Alben sind mittlerweile im Hi-Res-Format erhältlich, waren jedoch schon als CD von ausserordentlicher Audio-Qualität).

Auch fokussiert es besonders gut auf Gary Burton, da seine beiden erfahrenen Mitmusiker Gene Cherico (Bass) und Joe Morello (Schlagzeug) zwar auch solieren, ihn jedoch vor allem ausgezeichnet unterstützen. Zudem ist es nicht ein durchgestyltes Album, sondern es lebt von den persönlichen Interpretationen bekannter Titel (einige davon findet man auf diversen späteren Burton-CDs in neuen Variationen wieder) und ziemlich freien Blues-Stücken.

Gewiss gibt es in vielen (vor allem den schnellen) Stücken Ungenauigkeiten, die der Perfektionist Burton später nicht mehr toleriert hätte, man erlebt sozusagen das jugendliche Ungestüm. Speziell in «Over the Rainbow» hört man klare Ansätze, wie er schon damals Harmonien erweitern und durch diese Reharmonisierung bekannte Stücke enorm aufwerten konnte.

«New Vibe Man in Town» ist übrigens eine der wenigen Aufnahmen, auf denen Burton den Motor des Vibraphons (das eigentlich Tremolophon heissen sollte) benützt. Auf Wunsch von George Shearing spielte er auf dessen Tournee ohne Effekt … und fand den Klang des Instruments wesentlich ansprechender, sodass er von da an den Motor nicht mehr einsetzte.

Persönliche Anmerkung

Schon in Oldies but Goodies #2 erwähnte ich mein Montreux-Jazz-Festival-Erlebnis und wie ich das Konzert von Gary Burton und Chick Corea als unterkühlt und konstruiert empfand.

Gary Burton ist und bleibt unbestritten ein Ausnahmetalent, das dem Vibraphon zu neuer Bedeutung verhalf. Für mich sind jedoch die meisten Aufnahmen – trotz der technischen Brillanz – zu intellektuell, zu analytisch; atemberaubend von der Spieltechnik und auch vom Einfallsreichtum der Improvisation her, doch lösen sie bei mir (ausser Staunen und Bewunderung) keine Emotionen aus. Deshalb scheint es mir auch typisch für Gary Burton, dass er sich problemlos von der Musik verabschieden konnte, während Vibraphonisten wie Milt Jackson und noch extremer Lionel Hampton bis zu ihrem Tod Musik machen «mussten».

Seine Lebensgeschichte hat Gary Burton im Buch «Learning to Listen» aufgezeichnet.Seine Lebensgeschichte hat Gary Burton im Buch «Learning to Listen» aufgezeichnet.

Fazit

«New Vibe Man in Town» ist nur eines der über 60 Gary-Burton-Alben. Auch wenn seine musikalische Entwicklung meines Erachtens nicht linear verlief – seine diversen Abstecher in musikalisches Neuland zeigen eine grosse Neugierde, aber auch eine gewisse Unsicherheit (wie er selber schreibt): Gary Burton hat musikalisch viele neue Türen geöffnet, jungen Musikern neue Perspektiven aufgezeigt und Jazz auf natürliche Weise mit anderen Musikrichtungen verschmolzen.

STECKBRIEF
Interpret:
Gary Burton
Besetzung:
Gary Burton, Vibraphon
Gene Cherico, Bass
Joe Morello, Drums
Albumtitel:
«New Vibe Man in Town»
Herkunft:
USA
Label:
RCA
Erscheinungsdatum:
1961/2014
Spieldauer:
34:16
Tonformat:
FLAC 24/96
Medium:
Download/Streaming
Musikwertung:
7
Klangwertung:
7
Bezugsquellen