Die ersten Symphonien komponierte Haydn 1759 in Diensten des Grafen Morzin. Zu dieser Zeit war ein Musiker, ein Komponist nicht mehr als ein Bediensteter eines Adeligen. Dies änderte sich über die Zeit. Als Kapellmeister bei den Esterhazys erhielt Haydn als Wertschätzung ein üppiges Gehalt. Die auf dem Vol. 16 eingespielten späten Symphonien reflektieren den dramatischen gesellschaftlichen Wandel am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Symphonien Nr. 90, 94 und 98 entstanden für grosses Publikum, als Auftragswerke für Konzertveranstalter oder im Hinblick zur Aufführung für zahlendes Publikum. Musik erreichte das Bürgertum, entkam dem geschlossenen Raum der Adelshäuser. Vom Dienstboten zum gefeierten Star.
Zeitgeist im Wandel
Grösseres Publikum, grössere Säle, grössere Orchester! Haydns Orchester im Schloss Esterhazy in Eisenstadt umfasste 20 bis 25 Musiker, typischerweise je vier erste und zweite Violinen, Bratschen, Cello, Kontrabass und Bläser dann in doppelter Besetzung. Historisch orientierte Aufführungspraxis, wie sie Antonini anstrebt, orientiert sich an diesen Gegebenheiten. Das gilt auch für das Instrumentarium, dessen Entwicklungsstand der Entstehungszeit der Kompositionen entsprechen soll. Antoninis Musiker spielen auf Instrumenten aus dieser Zeit oder auf Nachbauten. Und auch bei der Interpretation der Werke versucht man die Spielweise und Interpretationen späterer Epochen (z. B. Ansichten über Vibrato, Tempi, Phrasierungen, Klangvorstellungen) abzulegen, um zum Ursprung zurückzukehren.
Flexible Orchestergrösse
Über 100 Symphonien als Gesamtaufnahme zu realisieren, ist eine Herkulesaufgabe. Gesamtaufnahmen von Werksammlungen tendieren nicht selten zur Oberflächlichkeit, was sicher auch auf Ermüdungserscheinungen und Zeitmangel basiert. Besonders, wenn ein Label ein Projekt schnell zur Marktreife bringen möchte – was zu Zeiten der rein physischen Tonträger oft einen hohen Druck auf die Musiker erzeugte.
Das von der Haydn Stiftung Basel geförderte Projekt Haydn 2032 (www.haydn2032.com) lancierte im Oktober 2014 das erste Album «La Passione». Stand heute wurde mit den 16 Ausgaben 50 der 104 Haydn Symphonien eingespielt. Womit sich ein Projekt-Zeitraum von 18 Jahren ergibt. Ermüdungserscheinungen? Wohl kaum! Auch wird der Zyklus alternierend von zwei Kammerorchestern eingespielt: dem Basler Kammerorchester und dem von Antonini gegründeten Il Giardino Armonico. So bleibt jedem Orchester genügend Spielraum für Tourneen, Erarbeitung und Aufführung anderer Werke.
Mit einer Orchestergrösse von je rund 25 Musikerinnen und Musikern entsprechen die beiden einem Orchester, wie Haydn es in Eisenstadt hatte. Und für die späten Symphonien für Paris und London, die einen grösseren Klangkörper verlangen, vereint man die beiden Ensembles zu einer Grossformation. Ein cleveres Konzept, das sich entsprechend auszahlt.
Haydn 2032 – Vol. 16 «The Surprise»
Haydn liebte es, die Zuhörer in die Irre zu führen, zu überraschen: ungewohnte Tonartwechsel, Bruch mit dem traditionellen Ablauf einer Symphonie, Wiederholungen an unerwarteten Stellen bis hin zu atonalen Momenten (Symphonie Nr. 60 «Il Distratto», 4. Satz). In diese Kategorie gehört auch die zweite der zwölf Londoner Symphonien – die Nr. 94 G-Dur «The Surprise» (mit dem Paukenschlag). Sie ist zusammen mit den Symphonien 90 in C-Dur und 98 in B-Dur, sowie der Rossini-Ouvertüre «La scala die seta» auf der 16. Ausgabe der Haydn-2032-Serie.
Ihren Übernamen erhielt die Symphonie Nr. 94 vom Publikum wegen des unerwarteten Orchestertutti im langsamen Satz. Dieser Satz ist exemplarisch für Haydns kompositorische Raffinesse. Der Satz beginnt mit einem acht Takte dauernden, piano (pp) gespielten, rhythmisch geprägten Motiv. Die simple Melodie bewegt sich an der Grenze zur Banalität, nicht verwunderlich, wenn ein Zuhörer deswegen fast wegdöst. Doch am Ende der Wiederholung der acht Takte setzt mit der letzten Note das ganze Orchester lautstark (forte – ff) und mit einem Paukenschlag ein. Dieses Grundthema wird nun weiterentwickelt: Haydn setzt meisterhaft Effekte, Tonartwechsel, Variationen ein. Auffallend für einen langsamen, zweiten Satz sind die starken Dynamikwechsel durch Tutti und Solostellen. Eine vergleichbare Struktur weist auch der dritte Satz der Symphonie Nr. 68 in B-Dur auf. Aussergewöhnlich folgt hier der langsame Satz an dritter Stelle.
Von Raffinessen geprägt ist auch der Kopfsatz (Vivace assai) der Surprise Symphonie mit seiner langsamen Einleitung, dem durch Pauken und Bläser geprägten Hauptthema, um dann im Seitenthema mit Verschiebung der Taktbetonung (2:13) und einem lieblichen Dolce-Thema einen Kontrast zu bilden (2:30).
Das Publikum hinters Licht führen macht Spass
Einen Beleg für diese Aussage ist plakativ der Schlusssatz der Symphonie Nr. 90. Nach knapp vier Minuten Spielzeit scheint der Satz zu einem plausiblen Ende zu kommen, provoziert durch eine typische Schlussgruppe. Vier Take Pause – und weiter geht’s piano mit einem kurzen Streicher-Motiv, das von einem Flötensolo, welches den Rhythmus der Schlussgruppe aufgreift, ausgebremst wird. Trotzdem entwickelt sich der Satz erneut. Wer bei Haydn im Konzert wegdöst, klatscht womöglich zum falschen Zeitpunkt oder wird aus der Unkonzentriertheit gerissen.
Antoninis Doppelorchester
Wie bei Antonini und dem Alpha-Label gewohnt, ist dieses Album keine redundante Aufnahme. Kein Aufwärmen von schon mal gekochtem. Die Spielweise des nun aus dem Basler Kammerorchester und dem Il Giardino Armonico gebildeten Ensemble ist frisch und akzentuiert, ein transparentes Klangbild, mit gut hörbaren Bläsern. Die Aufstellung der zweiten Violinen auf der rechten Bühnenseite ist eine Bereicherung, sind doch so die kompositorischen Linien nochmals deutlicher erkennbar.
Die Tempi sind klug gewählt, schneller als bei Aufnahmen aus den Achtziger/Neunziger-Jahren, aber nicht überdreht. Die Interpretation ist auf hohem Niveau, mit schön ausgearbeiteten Details und Akzenten. Bei Antonini immer wieder hervorstechend ist das gekonnte Spiel mit der Dynamik. Da werden die in der Partitur vermerkten Dynamikangaben raffiniert umgesetzt und herausgeschält. Dies ist einer der markanten Unterschiede im Vergleich zu früheren Aufnahmen von Haydn-Symphonien.
Alternativen Gesamtaufnahmen (Auswahl)
Antal Dorati, Philharmonia Hungarica (Decca) – in den 70er-Jahren kam die erste Gesamtaufnahme der Haydn-Symphonien auf den Markt. Ein Highlight, das damals ein halbes Vermögen kostete und noch heute als 33-CD-Box erhältlich ist. Das Tempo ist langsamer, zeitweise wird mit leichtem Vibrato gespielt. Typisch für die Zeit ist das homogene Klangbild mit mehr als dezenten Bläsern. Das Klangbild der digitalisierten Analogaufnahme ist eher dünn und Höhen-betont. Diese Sammlung ist für viele heute immer noch ein Massstab.
Thomas Fey, Heidelberger Sinfoniker (Hässler) – ist tempomässig am anderen Ende der Skala. Die Aufnahmen sind geprägt durch eine gute Raumstaffelung der Instrumente. Tonal recht ausgewogen. Der gesundheitlich bedingte Ausfall von Fey brachte das Projekt zum Stillstand. Es soll nun aber mit einem neuen Dirigenten vollendet werden.
Christopher Hogwood, The Academy of Ancient Music (L’Oiseau Lyre) – Ein historisch informierter Dirigent und entsprechendem Ensemble. Das Projekt kam mit Hogwoods Tod 2014 nach dem 11. Album zum Abbruch. Langsamer als Fey im Tempo, mit dynamischer Spielweise und fein ausgearbeitete Details ist diese Sammlung trotz Unvollständigkeit ein Hörgenuss. Einzig das Klangbild ist zeitweise leicht Höhen-betont.
Adam Fischer, Austro-Hungarian Haydn Orchestra (Brilliant Classics) – Kompletteinspielung, aufgenommen an Haydns «Arbeitsplatz», dem Konzertsaal im Schloss Esterhazy in Eisenstadt. Eine preiswerte 33-CD-Edition mit durchgängig guter Interpretation der Haydn-Symphonien. Tempomässig eher auf der schnelleren Seite ist das Orchester aus Spitzenmusikern aus Österreich und Ungarn gebildet. Gespielt wird auf modernen Instrumenten. Leicht helles, aber gut durchhörbares Klangbild.