Wir schreiben das Jahr 1950. Ein Student der École polytechnique fédérale Lausanne hat weitreichende Pläne für eine Werkzeugmaschine, die, ähnlich einem Roboter, von Menschen nur mehr programmiert werden muss und die Bearbeitung des Materials dann selbsttätig vollautomatisch durchführen kann. Über derartige Maschinen wird schon damals beispielsweise im MIT, dem Massachusetts Institute of Technology in Boston, geforscht. Der Student Stefan Kudelski nimmt diese ihrer Zeit damals weit vorausgreifenden Gedanken gerne auf.
Für diese Maschine – heute kennen wir sie als «Computerized Numerical Control CNC» – benötigt er natürlich einen Speicher zur Programmierung. Und da es noch keinen gibt, baut er ihn einfach selbst. Er kennt die Aufzeichnung von Informationen auf Tonbandgeräten und entwickelt daraus den Plan eines kleinen, tragbaren Datenspeichers aus den verfügbaren Materialien dieser Zeit. Die Enttäuschung folgt auf dem Fuss. Die Hersteller von Werkzeugmaschinen denken nicht so weit in die Zukunft wie er und lehnen seine Pläne prompt ab.
Kudelski gibt nicht auf, er hat einen Plan B, nachdem er einen Rundfunk-Übertragungswagen von Radio Genf bei der Arbeit gesehen hatte. Ein Lastkraftwagen war damals nötig, um eine Radioreportage ausserhalb des Studios durchzuführen: schwere Maschinen, um Schallplatten zu schneiden, viel Techniker, um die Mikrofone, die Verstärker und die Mischpulte zu betreuen und um die Energieversorgung sicherzustellen.
Was wäre, so dachte Kudelski in diesem Moment, wenn der Reporter anstelle des schweren Übertragungswagens einfach ein Mikrofon in der Hand und mein kleines Gerät auf der Schulter hätte?
Im Haus der Eltern in Prilly baut er seinen geplanten Datenspeicher nunmehr als Aufzeichnungsgerät für Ton. Geholfen wird ihm von Kommilitonen der EPFL (École Polytechnique Fédérale de Lausanne).
![Der Nagra I, das erste tragbare Tonbandgerät von Stefan Kudelski, revolutionierte 1951 die Audiotechnik und legte mit einer Kompaktheit den Grundstein für mobile Tonaufnahmen.](/assets/magazin/nagra_i_605.jpg)
Der Antrieb des Tonbandes wird von einem Federwerksmotor für Grammophone geleistet. Dafür kommt natürlich nur der verlässliche und starke Motor von Thorens infrage. Die Elektronik rechnet und baut er mit Radioröhren, die Energie dazu kommt aus Batterien.
Die ersten Schweizer Radiostationen zeigen Interesse an dem Gerät, das leichter und einfacher zu bedienen ist als die einschlägigen Geräte der Mitbewerber. Die Dinge nehmen ihren Lauf.
Kudelski gelingt es, auf diesem Anfangserfolg aufzubauen und alle dabei auftretenden Schwierigkeiten mit seiner Energie und seinem Charisma in den Griff zu bekommen. Er wird mit seiner Federwerks-getriebenen Nagra I und deren kontinuierlicher Weiterentwicklung, der Nagra II, zu einem erfolgreichen Anbieter tragbarer Tonaufzeichnungsgeräte. Seinem Unternehmen gibt er den Namen Nagra, nach dem polnischen Wort «nagrać» für «aufnehmen».
![Der Nagra II, 1953 eingeführt, verbesserte das Design und die Funktionalität seines Vorgängers. Mit seiner Präzision und Zuverlässigkeit wurde er zum Standard für professionelle Tonaufnahmen.](/assets/magazin/nagra_ii_605.jpg)
Gewohnt, in die Zukunft zu schauen, sieht er, während sich die Fünfzigerjahre ihrem Ende neigen, dass das Unternehmen einen Nachfolger für die schon jahrelang bewährte Nagra II braucht.
Er beginnt bei der Schwachstelle des Modells und einem neuen Motor. Da es auf dem Markt keinen batterielbetriebenen Motor gibt, der seinen Vorstellungen entspricht, erfindet er «einfach» einen neuen. Dieser Motor wird Geschichte schreiben. Zum ersten Mal wird ein tragbares Aufnahmegerät von einem absolut konstant drehenden Motor betrieben, der seine Rotation nach einer stabilen, elektronisch erzeugten Frequenz unter allen denkbaren Arbeitsbedingungen selbsttätig nachregelt.
![Der Nagra III, 1958 eingeführt, hatte erstmals einen elektronisch geregelten Motorantrieb.](/assets/magazin/nagra_iii_605.jpg)
Beim Design des Gerätes baut Kudelski nicht mehr auf Röhren, sondern auf dem 1947 erfundenen Transistor auf und erreicht damit eine Aufzeichnungsqualität für professionelle Anwendungen. Mechanisch setzt er auf ein Gleichgewicht zwischen Gewicht und Zuverlässigkeit, dabei hilft ihm sicher auch die Verfügbarkeit der wahrscheinlich besten Feinmechaniker der Periode in einem der Zentren der weltweiten Uhrenherstellung.
Beim Entwurf der Bedienelemente denkt Kudelski vor allem an den Reporter, der die Maschine an einem Riemen über der Schulter trägt. Alle Knöpfe, alle Regler und das Aussteuerungselement sind von oben sichtbar und bedienbar, der transparente Deckel zeigt das korrekt eingelegte und laufende Band.
Kein Wunder, dass Nagra mit diesem Gerät bald den Weltmarkt erobert. Kaum ein Film oder Fernsehspiel dieser Zeit kommt ohne «die Dreier» aus. Für seine technische Leistung erhält Stefan Kudelski im Jahr 1966 die Academy-Award-Plakette, seinen ersten Oscar.
An die dreissig Jahre kommt niemand in der Medienbranche an Nagra vorbei, auch die Nachfolger der «Dreier» spielen noch Jahre lang eine wichtige Rolle bei der Produktion von Hörfunk, Film und Fernsehen.
![Der Nagra 4.2 wurde ab 1972 produziert. Mit robuster Mechanik und erstklassigem Klang wurde er zum unverzichtbaren Werkzeug für Profis.](/assets/magazin/nagra_4_2_605.jpg)
Inmitten einer sich rasant verändernden Technologie bringt Kudelski immer wieder Weiterentwicklungen auf den Markt: eine ökonomischere Variante der 4er-Serie mit dem Modell «E» und eine kleinere, leichtere Maschine, die «IS». Im 1970 beschreitet Nagra neue Wege bei der Miniaturisierung mit dem Modell «SN», das anfangs ausschliesslich für Behörden und Geheimdienste gedacht war, sich aber später auch in der Welt der professionellen Tonmeister gut behauptete, wenn es darum ging, das Tonbandgerät vor der Kamera zu verstecken.
![Der Nagra SN, 1965 entwickelt, beeindruckte durch seine kompakte Bauweise und Aufnahmequalität. Ursprünglich für Geheimdienste konzipiert, fand er schnell seinen Platz in Film und Fernsehen.](/assets/magazin/nagra_sn_605.jpg)
Die Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts brachten die Digitalisierung, auf die auch die Firma Nagra mit digitalen Aufzeichnungsgeräten wie die «ARES», «D» und «DII» reagierte. Heute tragen High-End-Audio-Anlagen stolz den Namen Nagra und setzen damit eine jahrzehntelange Tradition eines der erfolgreichsten Schweizer Unternehmens fort.
In einem vor Kurzem erschienenen Buch wird die hier bloss angedeutete Geschichte des Unternehmens detailliert dargestellt.
![Das enorm hochwertige Buch zu Nagra ist in einer limitierten Auflage seit Ende 2024 erhältlich.](/assets/magazin/buch_schuber_605.jpg)
![Das reich bebilderte Buch wurde geschrieben von Roland Schellin und veröffentlicht von Ernst Hrabalek,](/assets/magazin/buch_p259_605.jpg)