Bei Spatial-Sound ändert sich die Musikwahrnehmung beim Drehen des Kopfes. (Bild: Denon)Die Meldung war nur einige Zeilen lang und hat es nirgendwo auf die Titelseiten geschafft. Google hat Spatial Audio in ihr Entwicklungskit für Cardboard integriert.
„Cardboard was?“, „Spatial wo?“ meinen die meisten Audiospezialisten zum Thema. Viele von ihnen erklären lieber den Verkaufsboom bei Schallplatten zum neuen Trend.
Für diese und andere ein Schnellkursus in moderner Unterhaltung: Cardboard ist eine Kartonschachtel, in die man sein Handy einlegt. Die Schachtel schnallt man sich dann vor das Gesicht, und kann virtuelle Realitäten (VR) erleben. Auf dem Handy läuft ein Video ab, beispielsweise über eine Achterbahnfahrt. Dreht man den Kopf nach links, schaut man aus seinem Achterbahnwägelchen in den Abgrund. Tönt banal, macht aber unglaublich viel Spass.
Dass spannende an VR ist, dass man mit seinem Medienkonsum interagiert. Man befindet sich im Prinzip im Geschehen.
Im Konzertsaal den Kopf drehen
„Und was geht uns das an“, fragt sich die Audiobranche. Eigentlich viel. Denn mit VR-Technik kann man auch im Konzertsaal sitzen. Dreht man den Kopf nach links, hört man die Bläser besser, dreht man nach rechts, konzentriert man sich auf die Streicher. Dazu müsste man nicht einmal eine Kartonschachtel vor das Gesicht schnallen. Spatial Audio, wie Google die Technik nennt, liesse sich nämlich in übliche Kopfhörer integrieren. Die dazu nötigen Bewegungs- und Lagesensoren kosten heute noch wenige Rappen.
Doch bei den grossen der Audiobranche hört man nichts von Spatial Audio. Anscheinend hat kaum jemand Lust, Konzerte im 360-Grad-Modus aufzuzeichnen.
Google und Co sind da schon Welten weiter. Inzwischen basteln bereits Tausende an virtuellen Realitäten für Cardboard, inklusive natürlich die ganze Rotlichtbranche.
Vielsagend ist auch, dass die Audiobranche die ganze Cardboard-Technik ignoriert. Denn eigentlich würde ich mir ja lieber statt der Google-Kartonschachtel ein hübsch designtes Teil umschnallen, das vor allem auch anständige Kopfhörer beinhaltet. Doch die Kopfhörerhersteller überraschen mich statt dessen nur mit neuen modischen Kabelfarben für ihre bekannten Ohrwärmer-Designs.
Eigentlich will sich niemand eine Kartonschachtel im Cardboard-Design vor das Gesicht schnallen. Aber die Kopfhörerhersteller bieten keine Designvarianten mit guten akusitischen Qualitäten. (Bild: Wikipedia)Böse Äpfel
Apple:Innovation in Sachen Kommunikation und neue Technologien verhalfen MP3 - und damit der digitalen Musik - zum Durchbruch (Bild: Apple)Doch vielleicht wachen auch die Kopfhörerhersteller bald aus sanfter Schlummerei in den traumatischen Alltag auf.
Denn Apple, so das Gerücht, wird den Klinkenstecker bei der nächsten iPhone-Generation abschaffen. Das heisst, die Kopfhörerproduzenten müssen dann entweder den Kaliforniern teure Lizenzen berappen, oder auf die zahlungskräftige iPhone-Kundschaft verzichten.
Natürlich könnte man nun über die bösen Kalifornier und ihr Monopolgehabe schimpfen. Tatsache ist aber, dass hier die Audiobranche die Entwicklung schlicht verschlafen hat. Digitale Musik auf einem digitalen Gerät mit viel Aufwand und Qualitätsverlust analog umzuwandeln, nur dass man sie durch einen analogen Anschlussstecker quetschen kann, ist eigentlich Unsinn. Audiohersteller hätten zehn Jahre Zeit gehabt, einen digitalen Standard und Anschluss zu entwickeln, mit dem sich digitale Kopfhörer an iOS und Androiden stöpseln lassen. Passiert ist nichts. Es ist also kaum verwunderlich, dass Apple nun seinen eigenen - und natürlich proprietären Weg beschreitet.
Erfinden statt belächeln
Eigentlich müsste die teils laut klagende Audiobranche ja in den letzten 20 Jahren viel gelernt haben. MP3-Player wurden als Spielerei belächelt, bis Apple den iPod verkaufte und die Musikindustrie eine Revolution über sich ergehen lassen musste. Musik-Streaming-Dienste wurden als akustisch minderwertiger Teenager-Schrott verspottet. Einige Jahre später sind die meisten CD-Läden verschwunden und sogar Download-Portale kämpfen in Nischen.
Doch neue Ideen hat die Audio-Branche bisher kaum entwickelt. Sogar bei den drahtlosen Kopfhörern kupferte man einfach bei den Telefonherstellern und ihrem für Sprache gedachten Bluetooth ab. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis Bluetooth mit Apt-X endlich wirklich musiktauglich wurde.
Dass eine kleine Gruppe von Heimkinofreunden mit Dolby Atmos und DTS:X in den Genuss von dreidimensionalem Filmklang kommt, ist wohl eher der Filmbranche zu verdanken.
Stimmt doch alles gar nicht, schreit nun hoffentlich die Branche auf, und klaubt moderne Konzepte und Ideen aus ihren Schubladen und überzeugt mich davon. Vielleicht bin ich ja auch nur ein Unwissender, der die Audio-Innovationen nicht mitgekriegt hat.
Aber dann wären wir schon beim nächsten Thema, bei dem die Audiowelt von den digitalen Revoluzzern lernen kann: Innovation wird nur wahrgenommen, wenn man sie kommuniziert.

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