Als ich im Spätsommer die Wharfedale Linton abholen konnte, staunte ich nicht schlecht! Vier doch recht voluminöse Pakete füllten meinen Kofferraum komplett, und auch das Gewicht der Kartons war überraschend hoch – und mein T-Shirt entsprechend schnell nass geschwitzt. Meine Neugier war geweckt! Das Auspacken und Aufstellen war dann wiederum ein schweisstreibendes Vergnügen. Doch die tolle, hochwertige und komplette Verpackung (inklusive Spikes, Unterlegern und Handschuhen) machte Vorfreude – und wie ich nach den ersten Tönen merken sollte, jeden Schweisstropfen wett!
Das Testobjekt
Die Linton-Dreiweg-Lautsprecher gehen zwar noch offiziell in die Kategorie grosser Bookshelf-Lautsprecher, aber zusammen mit den Original-Ständern gehören sie für mich in die Kategorie Stand-Lautsprecher. Als Hochtöner arbeitet eine 25-mm-Seidenkalotte, als Mitteltöner ein 135-mm- und als Bass ein 200-mm-Kevlar-Kegel. Die Verarbeitungsqualität des Lautsprechergehäuses ist generell hoch und das Holzfurnier einwandfrei verarbeitet. Eine klanglich neutrale Abdeckung wird mitgeliefert.
Interessanterweise gibt es einen «linken» und einen «rechten» Lautsprecher. Zu diesem Zweck ist der Hochtöner nicht symmetrisch, sondern leicht rechts bzw. links platziert. Das Wharfedale-Logo ist gleich daneben angeordnet, die Kartons entsprechend gekennzeichnet. Es gibt einen physikalischen Grund für diese Asymmetrie. So angeordnete Hochtöner generieren weniger von den Kanten verursachte Reflexionen, so werden diese gleichmässiger verteilt. Einige Hersteller haben in den 60er- und 70er-Jahren und zum Teil bis heute diese Anordnung beibehalten. Die Mehrzahl aber hat sich dem Design-Diktat untergeordnet und ordnet die Treiber symmetrisch an.
Die massiven, wertig verarbeiteten Ständer mit Holzeinlage passen perfekt zum Lautsprecher und bilden technisch und optisch eine Einheit. Sie können aber separat gekauft werden. Die Innen-Grösse ist so bemessen, dass LPs stehend im Ständer aufbewahrt werden können – ein nettes «Analog-Detail». Mit dem Ständer sind die LS in den meisten Fällen gleich auf der idealen Höhe platziert. Ich empfehle, die Ständer somit direkt mit dem Lautsprecher zu kaufen, passt!
Die Linton wird von Wharfedale in Nussbaum und Mahagony Red angeboten, die Test-Lautsprecher kamen in der attraktiven Nussbaum-Version.
Soundcheck
Genug des Vorgeplänkels. Lautsprecher mit Audioquest-Kabeln an den hochwertigen Single Wiring Terminals angeschlossen, den Moon-ACE-Verstärker aufgestartet und Qobuz via den Bluesound Node i2 Streamer aufgestartet. Lautsprecher aus dem Karton tönen ja die ersten 100 bis 200 Stunden bekanntlich noch etwas hüftsteif. Doch schon die ersten Töne aus der Linton waren überraschend voll, reich und lebendig. Im Verlauf des Einspielens veränderte sich ihr Klang nur noch marginal, was für die verwendeten Chassis spricht.
Zuerst standen die Lintons leicht eingewinkelt 30 cm von der Wand entfernt, was in meinem Hörraum etwas zu viel Bass generierte. 60 cm weg von der Wand war dann perfekt. Der 60-Watt-RMS leistende Moon-Verstärker hatte mit der Linton ein leichtes Spiel. Der danach angeschlossene 8-Watt-Röhrenverstärker kam dann aber schon ins Schnaufen – so ca. 25 Röhrenwatt sollten es im Minimum schon sein. Zwar gibt der Hersteller Wharfedale eine Empfindlichkeit von 90 dB an, und zudem ist die Weiche speziell für Röhrenverstärker-Impedanz linearisiert. Aber das Bass-Reflex-Prinzip benötigt für höhere Pegel und Bass-Kontrolle doch genügend Leistung.
Entgegen der weit verbreiteten Meinung, zu viel Leistung könne Lautsprecher beschädigen, entgegne ich, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Zu schwache Verstärker, die am Limit betrieben werden, klippen gerne. Und diese Oberwellen beschädigen im schlechtesten Fall die Hochtöner.
Der Klang der Linton ist eher auf der vollen, reichen Seite. Die allerletzte Analytik fehlt. Sie ist also keine Erbsenzählerin, was aber prima ins Vintage-Konzept passt. Die Räumlichkeit kommt trotzdem nicht zu kurz und die vom Lautsprecher aufgezogene Bühne ist gross, Live-Aufnahmen sind ein Erlebnis. Damit die Linton genug Auslauf hat, empfehle ich, sie in mittleren bis grösseren Hörräume sowie mit genügend Abstand zur Rückwand einzurichten. Die Lautsprecher taugen ganz sicher auch als temporäre Party-Boxen, ganz im Stil der 60er- und 70er-Jahre – und dem Motto «Let’s Rock’n’Roll».
Noch ein paar Worte zum Preis: Die Linton Wharfedale steht mit CHF 1090, die Ständer mit CHF 350 in der offiziellen Preisliste. Und nein, nicht pro Stück, sondern das Paar! Ohne das Preisschild zu kennen, würde ich sie in die Fünf-Tausend-Franken-Lautsprecherkategorie einteilen. Was Wharfedale mit der Linton im Programm hat, ist preislich unfassbar und lässt sich wohl nur mit Made in China und einer extrem scharfen Preiskalkulation begründen.
Fazit
Die Wharfedale Linton dürfte es 2020 so eigentlich nicht geben. Das Retro-Design ist 60er-Jahre – und ebenso das Preisschild. Sie ist sozusagen eine echte Zeitreisende! Der volle, gut aufgelöste und dynamische Klang der Linton ist absolut aktuell und verdient unsere wärmste Empfehlung. Der Wharfedale Linton Anniversary prophezeie ich, dass sie noch einige Zeit beim Lieferanten ausverkauft sein dürfte! An dieser Stelle bedanken wir uns bei Audio Video Spalinger für die Zurverfügungstellung der Lautsprecher.