Ich sehe bereits die Kommentare vor mir aufpoppen, von wegen, wir sollen nicht über unerreichbare Super-High-End-Geräte schreiben, die «man» sich ohnehin nie im Leben leisten kann. Warum aber drücken sich Millionen von Menschen an den Showroom-Fenstern von Luxusauto-Marken die Nase platt, um Autos zu betrachten, die dieselbe Unerreichbarkeit ausstrahlen und dennoch – oder gerade deshalb – bewundert werden?
Und warum wurden die Kronjuwelen im Tower of London von 30 Millionen Menschen besucht, die meisten davon in den letzten Jahrzehnten? Möchten die Besucher so etwas kaufen? Es geht auch bei Lautsprechern wie der Chronosonic XVX nicht darum, dass man sie vielleicht einmal sein Eigen nennt. Vielmehr sollen sie verkörpern, was möglich ist, wenn der Preis keine Rolle spielt.
Man kann aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es weltweit eben doch hunderte Menschen gibt, die ein Paar Wilson Chronosonic XVX für 390'000 CHF kaufen (werden) – und noch viele mehr, die es könnten, wenn sie wollten. Dazu kommt dann gewiss noch einmal mindestens die Hälfte dieses Betrags, die für die Verstärkung investiert wird. Die Demo-Anlage bei Roland Spalinger in Dietlikon kostet sogar gegen 1 Million, wenn man alles zusammenzählt. Der Händler wird im kommenden Zyklus von zehn Jahren vielleicht zwei oder drei Paar dieser Lautsprecher verkaufen.
Der Leuchtturm ist aber nie dazu da, sich selbst zu beleuchten. Sein Licht weist den Weg und strahlt im übertragenen Sinn auch auf die Modelle von Wilson, die etwas häufiger über den Ladentisch gereicht werden.
Den Begriff Chronosonic findet man bei den zwei grössten Lautsprechern von Wilson, der WAMM Master Chronosonic und der Chronosonic XVX. «Chronosonic» deutet in Richtung «Schall» und «Zeit» oder zeitrichtiger Schall. Der Begriff verkörpert das von Wilson vielleicht sogar erfundene, viel kopierte, aber auf jeden Fall nirgendwo so perfektionierte Prinzip der zeitrichtigen Schallquelle, die sich nahtlos aus mehreren Schallgebern zusammenfügt und dabei nur mit den beiden Variablen Weg und Winkel arbeitet.
Der ganz normale (Wilson-)Wahnsinn
Der Aufbau der Chronosonic XVX wird mindestens zwei, wenn nicht drei Tage in Anspruch nehmen, erklärt Roland Spalinger. Etwa einen Tag braucht man für die Platzierung und den Zusammenbau aller Komponenten. Alleine schafft man das kaum. Das Installations-Handbuch ist 68 Seiten stark. Nach der möglichst exakten Platzierung der Bassmodule im Raum (anhand von Tabellen) wird die Rahmenkonstruktion für die weiteren Treibermodule montiert.
Dort werden mit System alle Treibermodule eingefügt und grob justiert. Schliesslich erfolgt die exakte Verkabelung aller Module sowie die Montage der Abschlusswiderstände auf einer Art Bank. Die Abschlusswiderstände der einzelnen Treiber dienen der Pegel-Anpassung und als Überlastschutz.
Die exakte Ausrichtung jedes Treibermoduls in Bezug auf seinen Winkel und seine Distanz zum Hörplatz bzw. der Distanz zu den weiteren Treibern wird nicht etwa dem Zufall oder dem Hörergebnis überlassen. Das kommt dann gegebenenfalls später. Für die Informationen zur Ausrichtung stehen insgesamt acht Tabellen zur Verfügung. Sie geben anhand der Ohrhöhe über Boden und der Distanz zum Lautsprecher Auskunft über jede Einstellung bei jedem Treibermodul. Zum Beispiel die exakte Höhe der Spikes oder die Längenmasse in den entsprechenden Schiebevorrichtungen/Neigevorrichtungen mit ihren Skalen.
Der Aufwand an Komponenten und Hilfswerkzeugen, die montiert werden oder zur Anwendung gelangen, ist schlichter Wahnsinn. Das eindrücklichste Beispiel ist eine Art Präzisions-Wagenheber – oder besser Lautsprecherheber –, mit dem man die schweren Lautsprecher sanft und millimetergenau anheben kann, um zum Beispiel die Höhe der Spikes zu regulieren, bis der Lautsprecher exakt im Lot steht (was man an der fest montierten Libelle einfach feststellen kann).
Ein weiteres Beispiel ist eine integrierte Beleuchtung im Montagerahmen oberhalb des Bassmoduls. Die Verarbeitung dieser LED-Beleuchtung ist nicht etwa einfach und zweckmässig, sondern massiv und für die Lebensdauer einer halben Ewigkeit vorgesehen. Nicht im Lieferumfang zwar, aber von Roland Spalinger verwendet, ist ein Präzisions-Schraubendreher, mit dem Drehmomente sehr exakt eingestellt werden können. Die mit den Gehäusen verschraubten Lautsprechertreiber sollen nämlich unterschiedliche Anzugsdrehmomente aufweisen, die nach dem Transport aus Übersee tunlichst zu überprüfen sind. Nicht korrekte Anzugsdrehmomente sollen den Klang beeinflussen.
Dieses ganze Drumherum mag man belächeln oder relativieren, es beschert dem Besitzer allerdings ein faszinierendes Betätigungsfeld. Dies allein leistet einen grossen Beitrag zur Überzeugung, etwas ganz Aussergewöhnliches gekauft zu haben und nun zu besitzen.
Die Chronosonic XVX arbeitet mit zwei identischen Hochtönern, wovon einer indirekt gegen die Decke mit leichter Neigung nach hinten abstrahlt. Es sind die von Wilson bekannten Kalotten-Hochtöner mit Seide als Membranmaterial und dem charakteristischen, sternförmigen Dämpfungspad. Der nach hinten geneigte Hochtöner kann abhängig von der Raumakustik geregelt werden.
Das Mitteltonsystem ist ungewöhnlicherweise dreiteilig. Oben und unten arbeiten zwei identische Treiber mit 17,8 cm Durchmesser. Ihre Gehäuse sind gegen hinten belüftet. Oberhalb des unteren Mitteltontreibers gesellt sich noch ein kleiner, dynamischer Mitteltöner dazu. Er hat einen Membrandurchmesser von 10,2 cm und einen Alnico-Magneten als Antrieb. Das kleinere Gehäuse dieses Mitteltöners ist ebenfalls belüftet, jedoch gegen unten.
Das mächtige Bassreflexsystem der Chronosonic XVX ist mit zwei unterschiedlichen Basstreibern bestückt: einmal mit 31,75 cm und einmal mit 26,67 cm Durchmesser. Im Inneren würde man ein Labyrinth von Platten, Profilen und Öffnungen entdecken. Dank der Konstruktion und der Verwendung Wilson-typischer Verbundstoffe ist nicht mit Vibrationen zu rechnen, aber auch nicht mit Dämpfungseigenschaften, die den Tiefton leblos werden lassen. Besonders praktisch ist die Anordnung der Bassreflex-Öffnungen: Man kann entweder die vordere Öffnung in Richtung Musikhörer verwenden oder die hintere Öffnung in Richtung des rückwärtigen Raums.
Dazu kann die massive Abdeckplatte entweder hinten oder vorne angeschraubt werden beziehungsweise mit dem dekorativen Rahmen der Austrittsöffnung vertauscht werden. Das Bassmodul enthält jedoch auch noch einen akustisch nicht genutzten Raum für das Subgehäuse, in dem die gesamte Frequenzweiche untergebracht ist.
Allgemeine Überlegungen
Die Wilson Chronosonic XVX ist 187 cm hoch und an der Basis 84 cm tief. Die Breite von max. 42 cm fällt nicht so ins Gewicht. Das passt alles gerade noch in Räume mit einer Normhöhe von 240 cm oder etwas mehr. Das Design ist gewöhnungsbedürftig. Es gibt aufgrund der Funktion, die erfüllt sein muss, nicht viel Spielraum. In Räume unter 70 Quadratmetern passt sie rein optisch bestimmt nicht. Die gebogene Neigung des Hoch/Mitteltonsystems gegen den Musikhörer wirkt eher ungemütlich – oder sogar etwas bedrohlich. Auch hier folgt man der Funktion.
Dafür besticht das Lautsprechersystem durch eine überragende Fertigungsqualität in jedem hinterletzten Detail und auch damit, dass man das auch aus einiger Distanz mitkriegt. Das Ganze hat etwas Alienhaftes.
Der Wirkungsgrad ist mit 92 dB anständig. Die Nominalimpedanz von 4 Ohm wird dann bei 326 Hz mit dem Impedanz-Minimum von 1,6 Ohm «gesegnet». Die Minimal-Verstärkerleistung wird vom Hersteller mit 100 Watt RMS definiert. Allerdings muss man dann auch noch die 1,6 Ohm berücksichtigen. Ich würde jedenfalls nicht unter 2 x 400 Watt RMS an die Dinger ran.
Roland Spalinger setzt die Relentless Mono-Endstufen von D'Agostino ein – ein teurer Spass mit 340'000 CHF Paarpreis und erheblichem Platzbedarf. Natürlich braucht es das nicht – aber Noblesse oblige.
Hörtest
Roland Spalinger hat sich für eine Maximal-Demo der Chronosonic XVX entschieden. Als Quelle arbeitet ein Streamer von dcs mit dem Rossini-DAC. Als Vorverstärker kommt eine Audio Research Ref. 6 zum Einsatz. Kein Verzicht auf Röhren. Dann die erwähnten Relentless-Mono-Endstufen von D'Agostino und zwei Momentum Mono-Endstufen für die zwei Subwoofer von Wilson, über eine aktive Frequenzweiche angesteuert. Es werden also zusätzlich noch zwei sehr potente Subwoofer eingesetzt. Damit steht die Chronosonic XVX nicht mehr ohne weitere Unterstützung im Raum. Darüber kann man sich streiten. Bestimmt sind diese Subs nicht matchentscheidend, aber es ist zu hinterfragen, ob Lautsprecher, die 20 Hz bis 30k Hz mit +/- 2 dB abliefern, mit Subwoofern vorgeführt werden sollen.
Es sei keine einfache Aufgabe, mit einem System dieser Potenzklasse zu überzeugen, denn die Erwartungen der Musikhörer seien unglaublich hoch, sagt Spalinger. Das ist aber nicht wirklich ein Problem, denn unsere Erwartungen dürsten nach Erfüllung. Das ist die Psychologie, und die spielt immer. Umgekehrt interpretiert ist es sehr schwierig, kritisch zu hören. Man wähnt sich ja schon im Michelin-3-Sterne-Restaurant – und wer wagt sich dort schon, qualifiziert Kritik zu üben ...
Es gibt nichts zu bemängeln. Die Chronosonic XVX klingen in diesem Setup phänomenal und atemberaubend gut. Sie erzeugen einen gespenstisch realen Raum vor mir, einen Raum (oder eine Klangbühne) mit einer Präsenz, deren wahrnehmbare Eigenschaften mir bislang nicht vertraut waren. Dieser Raum geht nicht nur in die Tiefe, er wölbt sich auch über den Kopf nach hinten in den Raum. Die physischen Begrenzungen sind nicht mehr existent. Die Akteure haben in diesem Raum eine exakte Position und eine klar definierte Grösse, wie auch ein Luftvolumen um sich herum. Die Instrumente atmen regelrecht, der Konzertflügel klingt eigentlich besser als in Wirklichkeit – was das Ganze auch schon wieder etwas unwirklich macht.
Die Separierung von Chorstimmen sehr grosser Chöre ist so ein Wilson-Ding. Dieses wird hier exemplarisch gut umgesetzt. Man kann sich mit Konzentration auf einzelne Stimmen fokussieren und sie auch wieder in die Gesamtheit des Chors verschwinden lassen. Für den konzentrierten und begeisterten Hörer bieten diese Möglichkeiten einen Hochgenuss. Stimmen, Mittelton, Gesänge aller Art, Klangfarben, immer alles vom absolut Feinsten. Der Hochton mit der Offenbarung jedes Details war mir eine Winzigkeit zu akzentuiert. Bestimmt eine Frage der Justierung für den Fall, dass das jemand ähnlich sehen oder hören würde.
Der Low Bass bringt bei Orchesteraufnahmen eine Menge Rauminformation, wurde aber, wie erwähnt durch zwei Subwoofer unterstützt. Die Bassdynamik empfand ich als ungeheuer gut, völlig entschlackt und unverzerrt mit begeisternder Mühelosigkeit und unglaublicher Schnelligkeit. Perfekt!
Das Einzige, das der Chronosonic XVX ein wenig fehlt, ist die Ungenauigkeit der Realität. Sie scheint sich über diese Realität der Aufnahme zu schwingen.
Fazit
Es gibt noch wesentlich kostspieligere Lautsprecher als die Chronosonic XVX, auch von Wilson selbst. Die Chronosonic XVX ist im Umfeld der teuren Super-Speaker vermutlich etwas vom Besten überhaupt. Und da es noch viel teurere Exemplare gibt, wäre man versucht, von einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis zu sprechen. Ich verzichte lieber darauf. Bei diesem Preis, kombiniert mit allem, was dazu kommt, kann man nicht guten Gewissens von Preis-Leistung sprechen. Ich gehe aber davon aus, dass man bei Wilson deshalb keinen Schaden nimmt.