Die ältesten Jazzaufnahmen dürften gegen hundert Jahre alt sein. Tatsache ist, dass die ersten Tonaufzeichnungen einer menschlichen Stimme von 1857 stammen und auf einem Gerät namens «Phonautograph» aufgezeichnet wurden, das vom Franzosen Édouard-Léon Scott de Martinville erfunden wurde.
1877 patentierte Thomas Edison den «Phonograph Cylinder» und schaffte damit das erste Konsumentenformat für Audio, das für rund 30 Jahre erfolgreich war.
Erst um 1910 setzte sich mehr und mehr der Disc Phonograph durch, der unter dem Namen «Gramophone Record» 1887 vom US-Amerikaner Emile Berliner patentiert und ab 1894 in den USA und 1897 in Grossbritannien vermarktet wurde.
Edison erkannte rechtzeitig, dass die Platte den Zylinder verdrängen würde und schuf den Edison Disk Record: Schellackplatten mit der bald akzeptierten Norm von 78 Umdrehungen pro Minute. Diese delikaten, zerbrechlichen Schellackplatten waren das Normformat für Audiokonserven von 1910 bis in die späten 1950er-Jahre.
Die Jazzaufnahmen, von denen hier die Rede sein soll, stammen aus der zweiten Hälfte der 20er-Jahre, aus einer Zeit also, in der Tonaufzeichnungen noch in den Kinderschuhen steckten. Umso erstaunlicher ist es, dass viele dieser Überlieferungen wesentlich mehr sind als verrauschte Zeitdokumente. Sie klingen teilweise überraschend gut.
Und wenn man zusätzlich bedenkt, dass bis ca. 1920 noch keine Mikrofone eingesetzt wurden, die Aufnahmen also rein mechanisch über Schalltrichter erfolgten, sind die Resultate umso erstaunlicher. Die ersten kommerziellen elektrischen Aufnahmen mit Mikrofon wurden von den Firmen Victor (His Master’s Voice) und Columbia im Februar 1925 vermarktet – die vorliegenden Aufnahmen stammen von 1926/27, dürften somit als Pionierleistungen betrachtet werden.
Kid Ory, Johnny Dodds und Lil Hardin
Diese drei Namen haben eines gemeinsam: King Oliver, in dessen Band sie sich trafen und zusammen spielten. Und ein weiterer kam dazu: Louis Armstrong, ebenfalls Mitglied der King Oliver Band und von 1924 bis 1932 mit Lil Hardin verheiratet. Und auch Johnny St.Cyr, der Saitenmaestro, war Teil der King-Oliver-Truppe.
Diese fünf bildeten «Louis Armstrong’s Hot Five», eines der erfolgreichsten Kleinorchester des damaligen New Orleans Jazz, das kurz darauf mit zwei weiteren Musikern zur «Hot Seven» wurde.
Doch auch schon damals gab es Artistenverträge zwischen einzelnen Musikern und den grösseren Schallplatten-Labels. Da Louis Armstrong einen Exklusivvertrag mit dem Label OKEH einging (siehe auch Text im Bild oben) und deshalb nicht mit Bands auf anderen Labels auftreten durfte, fehlt sein Cornet auf der hier besprochenen LP, die Lil Hardin mit den übrigen Hot-Five-Musikern unter dem Namen «New Orleans Wanderers» für Columbia aufnahm. Die Aufnahme gibt es (laut Discdogs) in 20 verschiedenen Versionen auf sechs verschiedenen Labels. Nicht erwähnt bei Discdogs ist die Hi-Res-Version von BnF (siehe unten).
Am häufigsten wurde die LP als «Johnny Dodds and Kid Ory» betitelt, ist jedoch auch bei CBS mit dem Titel «New Orleans Emblems» und bei Jazz Panorama unter «Perdido Street» zu finden. Es ist eigentlich eine Kompilation von drei verschiedenen Bands, wobei nur die Bandnamen änderten, die Musiker aber dieselben waren, zum Teil mit weiteren Kollegen ergänzt.
Auf der Philips-Version sind die drei Namen aufgeführt: «The New Orleans Wanderers», «The New Orleans Bootblacks» und «The Chicago Footwarmers».
Wie nicht anders zu erwarten, ist die Tonqualität «historisch», doch erfreulich gut und klar, ohne viele Nebengeräusche. Ich konnte drei verschiedene Qobuz-Streams mit meinem «Original» vergleichen (die Jazz-Panorama-Version «Perdido Street» ist noch eine der wenigen LPs in meiner Sammlung).
Resultat: Alle Streams klingen gleich, es gibt kaum Unterschiede. Die LP hat (natürlich) mehr Nebengeräusche, wurde sie im Laufe der Zeit bestimmt über 100 Mal abgespielt, zum Teil auf «unsanften» Plattenspielern. Ansonsten klingt die LP jedoch vergleichbar.
BnF Hi-Res-Audio
BnF steht für Bibliothèque nationale de France. Laut Wikipedia ist sie eine der ältesten Nationalbibliotheken und sammelte während rund 600 Jahren Werke aller Art, von Bildern über Objekte wie Münzen, aber auch Musik in jeglicher Form: von handgeschriebenen Partituren bis zu modernen Tonträgern.
Um Musik für die Nachwelt zu erhalten, wurden in den letzten Jahren viele analoge Audio-Dokumente bestmöglich digitalisiert, meist im Format 24 Bit / 96 kHz, doch ohne das Original zu verändern. So klingt denn auch die Hi-Res-Aufnahme (zumindest für mich) genau gleich wie die CD-Streams.
Fazit
Eine Diskussion über «Hi-Res oder nicht» von historischen Dokumenten ist für mich müssig. Viel wichtiger ist, dass bei der Digitalisierung nicht geschludert wurde, dass der Stream mindestens ebenso gut klingt, wie die (in diesem Fall 1957 erfolgte) Übertragung auf Vinyl.
Eigentlich sollte diese Aufnahmen-Sammlung Lil Hardins Namen tragen, da sie sowohl Initiantin und Bandleader als auch Komponistin der meisten Takes war. Wenn hinter dem Titel in Klammer (Armstrong) steht, ist Lil Hardin gemeint und nicht Louis Armstrong, mit dem sie damals verheiratet war.
Alles in allem eine wunderbare LP, die uns nicht nur in die 20er-Jahre zurückversetzt, sondern auch vor Augen führt, wie rasant sich die Technik in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Sie zeigt auch, dass wir dankbar sein müssen, dass es Organisationen wie die BnF gibt, die Kunstwerke für die Nachwelt erhalten. Schliesslich dürften die meisten von unseren privaten digitalen «Sammlungen» in naher Zukunft im Daten-Nirvana verschwinden.