Diego Rivera? War das nicht der berühmte mexikanische Maler, der zwischen 1922 und 1953 unzählige Wandmalereien in Mexiko, aber auch in den USA, vor allem in Detroit (unterstützt von Frida Kahlo), schuf? Genau!
Doch der Tenorsaxofonist gleichen Namens ist weder verwandt noch verschwägert mit dem Wandmaler. Seine mexikanischen Eltern benannten ihn so zu Ehren des Künstlers, der 1933 die Wände des Institute of Art in Detroit, wenige Kilometer vom Wohnort der Familie, bemalt hatte.
Diego Rivera, Musiker
Über das genaue Alter des Musikers Diego Rivera war nichts zu erfahren. Überall findet man die Bemerkung, dass er sein Publikum schon seit über 20 Jahren mit seiner Musik beglücke.
Diego wurde in Ann Arbour, einem Vorort westlich von Detroit, geboren. Sein Chicano-Erbe (US-Bürger als Sohn eines Mexikaners) war und bleibt für ihn immer wichtig. Nach Abschluss seines Studiums an der Michigan State University, wo er u. a. bei Branford Marsalis seine Liebe zum Tenorsaxofon festigte, begab er sich 1999 als Profimusiker auf seine erste Big Band Tour mit dem Jimmy Dorsey Orchestra.
Seither tourte er weltweit u. a. mit Kurt Elling oder Sophie Milman, derzeit jedoch mit seinem eigenen Quartett. Er trat mit diversen Jazzgrössen auf, wie Christian McBride, Wycliffe Gordon, mit der Gerald Wilson Big Band und dem Lincoln Center Afro-Latin Jazz Orchestra.
Rivera ist zudem ein begnadeter Komponist und Arrangeur, zudem unterrichtet er auch noch an der Michigan State University.
Posi-Tone Records
Wenn einem ein «neues» Plattenlabel plötzlich positiv auffällt, weckt dies Neugierde. Posi-Tone, an American Jazz Record Label, wurde 1994 vom Musiker und Produzenten Marc Free zusammen mit dem Tontechniker Nick O’Toole gegründet und hat seither nicht nur viele Top-Musiker und -Musikerinnen vertraglich «in die Familie» aufgenommen, sondern auch schon eine ansehnliche Albensammlung aufgebaut und somit uns Musikkonsumenten sowohl musikalisch als auch technisch aussergewöhnlichen Jazz bereitgestellt.
Für das fünfte Album unter seinem Namen hat Diego Rivera erneut einige der besten Posi-Tone-Musiker vereint. Ausser dem Drummer Rudy Royston, der bei einem anderen Label unter Vertrag steht, hat jeder der Mitmusiker auch Alben unter eigenem Namen (mit leicht veränderter Besetzung) bei Posi-Tone Records veröffentlicht:
Alex Sipiagin, Jahrgang 1967, stammt aus Russland und gilt schon seit einigen Jahren als «Rising Star» unter den Jazz-Trompetern. Aktuelles Album: «Upstream». Gleiche Gruppe, ohne Diego.
Der ebenfalls aus Russland stammende Boris Kozlov, auch Jahrgang 1967, lebt seit Mitte der 90er-Jahre in New York und etablierte sich in kürzester Zeit zum gesuchten Bassisten. Neustes Album: «First Things First» mit Art und Rudy, plus Behn Gillece (vib) und Donny McCaslin (ts).
Art Hirahara , Jahrgang 1971, stammt aus Kalifornien und begann als vierjähriger Klavier zu spielen. Neustes Album: «Open Sky». Neben Alex und Rudy noch mit Nicole Glover (ts) und Behn Gillece (vib).
Rudy Royston stammt aus Texas, wuchs jedoch in Denver, CO auf. Er begann schon früh zu trommeln und spielte Schlagzeug im Kirchenchor. Als gefragter Schlagzeuger ist er in allen Stilrichtungen zuhause.
«Mestizo»
Aussergewöhnliche Musiker spielen aussergewöhnlichen Jazz: komponiert, organisiert und doch mit viel Freiheit aufeinander eingehend, in jedem Stück eine besondere Stimmung vermittelnd.
Acht der zehn Stücke stammen aus der Feder von Diego Rivera und haben alle ihre Geschichte:
- «Battle Fatigue» entstand kurz nach der Verurteilung des Polizisten Derek Chauvin (Ermordung von George Floyd) und soll den Aufruf gegen Rassismus und Vorurteile verstärken.
- «Rasquache» unterstreicht die Kreativität und den Überlebensinstinkt der Chicanos (siehe oben), die nie ihre Wurzeln vergessen.
- «Brachero», was so viel wie (Schwer-)Arbeiter bedeutet, soll an das Barchero-Programm (1942) der USA erinnern, mit dem man, wegen Knappheit an Arbeitskräften, Mexikaner in die USA holte.
- «Cancio De Cuna» hingegen wurde durch die aktuelle Situation inspiriert: Flüchtlingsfamilien werden an der Grenze zu den USA auseinandergerissen und in separaten Camps untergebracht.
- «La Raza Cosmica» bezieht sich auf das 1925 veröffentlichte und umstrittene Buch von José Vasconcelos, welches das Verschmelzen der verschiedenen Rassen in eine einzige, die «Kosmische Rasse», beschreibt.
- «The Rose Window» bezieht sich auf ein 1775 geschaffenes Kirchenfenster in der Mission de San José in San Antonio TX. Als Diego dieses Fenster zum ersten Mal sah, flog ihm diese Melodie zu.
- Im Titelstück «Mestizo» illustriert Rivera einmal mehr, dass die Besonderheiten aller Kulturen miteinander verschmelzen und eins werden können.
Fazit
Auch wenn man sich nicht für die Hintergründe von Diego Riveras Kompositionen interessiert, fesselt einen dieses Album vom ersten Ton an, da es (meiner Meinung nach) so viel Berührendes rüberbringt, hervorragend gespielt (und aufgenommen sowie abgemischt) ist, jedoch nie in kaltem Perfektionismus untergeht.
Wie schon «Yellow Spaceship» hebt es sich – wenn auch aus völlig anderem Grund – so wohltuend von der Alltagsproduktionsmasse ab, dass ich es einfach empfehlen muss.