Unveröffentlichte Zeitdokumente haben etwas Besonderes an sich. Wenn der Untertitel von "The Lost Session from the Black Forest", also von den verlorenen Aufnahmen spricht, ist dies wohl eher ein Marketinggag, denn verloren waren sie nie. Sie ruhten vielmehr im MPS-Archiv in Villingen, da eine Veröffentlichung die Zustimmung des Interpreten und/oder dessen Managerin benötigt hätte, dies jedoch nie geschah. Doch nun wurden diese analogen Tondokumente zur Freude vieler Bill-Evans-Bewunderer hervorgeholt und nach neusten Methoden digitalisiert.
Oscar-Peterson-Fans dürfte der Name Hans Georg Brunner-Schwer ein Begriff sein, hatte er doch zu Beginn der 60er-Jahre in seinem Privatstudio diverse Kleinkonzerte mit dem Klaviervirtuosen (Solo und im Trio) aufgezeichnet und vier Alben mit dem Untertitel "Exclusively for My Friends" veröffentlicht. Bis vor wenigen Wochen nur wenigen bekannt war die Tatsache, dass "HGBS" das Bill-Evans-Trio, das fünf Tage zuvor am Jazz Festival in Montreux aufgetreten war, im Studio hatte. Der Bassist Eddie Gomez war schon seit zwei Jahren dabei, während der Schlagzeuger Jack DeJohnette eben erst dazugestossen war. Bis anhin galten die Live-Aufnahmen von Montreux, die Evans den zweiten Grammy beschert hatten, als das einzige Album des Trios in dieser Besetzung. Und nun also die Überraschung aus dem Schwarzwald.
Klanglich lassen die Aufnahmen kaum Wünsche offen: Sie sind kristallklar und trotzdem warm (wie zu erwarten vergleichbar mit den Oscar-Peterson-Aufnahmen auf MPS, nur ohne Zuhörer und demzufolge ohne Nebengeräusche) und strahlen eine gewisse private Vertrautheit aus, Wohnzimmeratmosphäre eben. Auch ist der Flügel stets das dominante Instrument, wird weder vom Bass noch von den Drums überdeckt, oder anders ausgedrückt: Die Abmischung ist optimal.
Musikalisch überraschend waren für mich die grossen Unterschiede zwischen dem Montreux-Konzert und diesen MPS-Aufnahmen: Vor Publikum scheint mir die Experimentierfreudigkeit der drei Musiker wesentlich grösser, sie geniessen hörbar ihre Freiheit und die Interaktion mit den Festivalbesuchern, und laut ihren Aussagen spielte auch die Anwesenheit so vieler Jazzgrössen eine (kompetitive) Rolle.
Im Schwarzwald-Privatstudio ist die Ambiance gezwungenermassen intimer, was sich auch auf die Musik auswirkt: Abgesehen davon, dass fünf Stücke ohne Schlagzeug aufgenommen wurden, eines gar Piano solo, finde ich, dass die Musik relativ leichtverdaulich dahinperlt, mehr Mainstream als Experiment. Dies soll nicht als negative Kritik gelesen werden. Im Gegenteil: Das "Some Other Time"-Album ist in seiner ganzen Länge (über anderthalb Stunden) ein Genuss, zwingt den Zuhörer jedoch auch nicht zu voller Konzentration. Wenn diese nachlässt, wird man allerdings plötzlich durch eine aussergewöhnliche Harmonienfolge oder ein besonders intensives Bass-Solo zurückgeholt.
Ein weiterer Grund für die eher konventionellen Klänge dürfte auch in der Stückwahl liegen: Es gibt keine Überschneidungen zwischen Montreux und dem Schwarzwald. Und ausser der Eigenkomposition von Bill Evans' "Very Early" sind alles bekannte Stücke aus dem "American Songbook", die man schon von vielen anderen Interpretationen her kennt. Auch dies ist (aus meiner Sicht) positiv, zeigt es doch die enorme Kreativität von Bill Evans (und auch von Eddie Gomez), aus Bekanntem Neues zu schaffen.
Interessante Vergleiche erhält man durch die zwei Varianten des gleichen Titels, einmal im Duo und dann im Trio. Ich möchte mich da nicht zu weit auf die Äste hinaus lassen, doch scheint mir Jack DeJohnette z.B. in "Baubles, Bangles and Beads" aus dem Musical "Kismet" eher etwas verloren. Laut Interviews in den Liner Notes hatte man diverse Stücke zuvor noch nie im Trio gespielt.
Nach mehrmaligem Anhören drängte sich ein Vergleich mit den Oscar-Peterson-Aufnahmen auf: Auch wenn die Aufnahmequalität noch so gut, die musikalischen Höhenflüge beim ersten Hinhören noch so atemberaubend sein können – von den Schwarzwaldaufnahmen beider Klaviergenies werde ich viel weniger berührt als von anderen, möglicherweise aufnahmetechnisch weniger guten Audiodokumenten dieser Künstler. Möglicherweise hatte Brunner-Schwer in seiner Villa eine Art (entschuldigen Sie das Modewort) "Wohlfühloase" kreiert, was sich auf die Musiker und die Ecken und Kanten ihres Spiels auswirkte.
Fazit
Alles in allem sind die "Lost Sessions" jedoch absolut empfehlenswerter Pianojazz erster Güte, die eine weitere Seite von Bill Evans' Klavierstilentwicklung aufzeigen, auch wenn sich Bill-Evans-Puristen möglicherweise mehr Spannung und Tiefe, mehr Wagnis resp. weniger "heile Welt" gewünscht hätten.