In der Annahme, dass für die meisten Menschen visuelle Eindrücke eine grosse Rolle spielen, versuche ich, mein «Übersehen» des neusten Albums von Cyrus Chestnut mit eben diesem ersten Eindruck zu rechtfertigen. Schliesslich treffen wir Entscheidungen zum grossen Teil nach einem ersten Augenblick.
Dass der Inhalt oft nicht mit der Verpackung übereinstimmt, dass unser erster Eindruck eben oft falsch sein kann, ist nichts Neues. In den meisten Fällen verspricht die Verpackung mehr, als der Inhalt hält – doch in diesem Fall ist es genau umgekehrt.
Cyrus Chestnut
Cyrus wurde am 17. Januar 1963 in der grössten Stadt des US-Staates Maryland, in Baltimore, geboren. Seine Eltern waren stark in der Kirchenarbeit engagiert: Sein Vater, ein ehemaliger Postangestellter, war Kirchenpianist (Autodidakt), übte und spielte auch oft zuhause. Seine Mutter, eine Mitarbeiterin des städtischen Sozialdienstes, leitete den Kirchenchor. Schon früh begann Cyrus Klavier zu spielen, unterstützt von seinem Vater, der ihn unterrichtete, wann immer Cyrus Lust hatte.
Bald schon wurde der Knabe Begleitpianist in der Mount Calvary Baptist Church und lernte die diversen Spirituals und Hymnen kennen. Mit neun begann sein Studium klassischer Musik an einem privaten Konservatorium, dem Peabody Institute.
Als 22-Jähriger (1985) schloss er sein Studium für Jazzkomposition und -arrangement am Berklee College of Music in Boston ab.
Schnell wurde er zum gefragten Pianisten. Er spielte u.a. in den Bands von Wynton Marsalis und Terence Blanchard bevor er 1990 Mitglied der Begleitband der Sängerin Betty Carter wurde.
1992 machte er zum ersten Mal Aufnahmen – dafür nahm er gleich drei Alben unter seinem Namen im Trio auf: «Nut» (ein Doppelalbum), «The Nutman Speaks» und «The Nutman Speaks Again». Seine zwei Mitstreiter waren die damals ebenfalls noch wenig bekannten Jünglinge Christian McBride am Bass und Carl Allen am Schlagzeug.
Seither sind über 30 Alben von Cyrus Chestnut als Leader erschienen. Und auf mehr als 90(!) Produktionen hat er als Pianist mitgewirkt. Dabei konnte er seine stilistische Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen, da seine Musikpalette von Mainstream via Pop und Smooth Jazz bis zurück zu Be-Bop reicht. Oder anders gesagt: von Freddy Cole über Elvis Costello und Gerald Albright bis Roy Hargrove. Und immer wieder kehrt er zu seinen Wurzeln, den Hymnen und Spirituals, zurück.
Und nun also die Hommage an seinen Vater, der 2021 85-jährig verstarb.
«My Father's Hands»
Aus dem Booklet: «Mein Vater sagte mir, er hätte mir ein Erbe hinterlassen können. Aber er war der Meinung, wenn er mich mit der Musik bekannt macht, würde mir das viel länger helfen als jedes Geld. Bis heute bin ich so dankbar, dass er diese Einsicht hatte.»
Und: «So lange ich mich erinnern kann, habe ich gesehen, wie die Hände meines Vaters eine leidenschaftliche Beziehung zum Klavier hatten. Sie spielten Arpeggien und Dreiklänge in einem starken, treibenden Rhythmus, der einen vor Freude in Bewegung versetzte, sobald man die Klänge hörte.»
Wer nun ein trauriges, balladenhaftes Album erwartet, wird (glücklicherweise) enttäuscht. Schon zu Beginn überrascht uns die spannend arrangierte Eigenkomposition «Nippon Soul Connection», die auch gleich alle solieren lässt.
Die Melodie von «Thinking of You», ebenfalls eine Cyrus-Chestnut-Komposition, ist dermassen eingängig, dass sie mich tagelang verfolgte: leichtfüssig und fröhlich.
Die Ray-Bryant-Komposition «Cubano Chant» erhält unter Cyrus’ Fingern ein neues Leben, wirkt frisch und unbeschwert. «Baubles, Bangles, & Beads» aus dem 1953er-Musical «Kismet» wird im originalen 3/4-Takt interpretiert und behält so den Charme des Originals mit dem jazzigen Extra.
Das erste Traurigkeit ausstrahlende Stück ist das hundertfach gehörte, jedoch kaum je so gefühlvoll interpretierte «Yesterday» von Paul McCartney. Ohne seine Mitmusiker spielt Cyrus danach «I Must Tell Jesus», eine bekannte Hymne, die er «neu erfindet», indem er das Harmonienspektrum gefühlvoll erweitert.
Eine weitere Chestnut-Komposition «Working Out Just Fine» bringt uns zurück zum Fusswipp-Jazz. Der bekannte Songbook Titel «There Will Never Be Another You» – wohl wegen des Titels gewählt – wird vom Trio als eine Art Bossa Nova gespielt und birgt einige melodiöse Überraschungen sowie ein spezielles Drumsolo.
Zum Schluss wird es wieder etwas besinnlicher: Die bekannte Ballade «But Beautiful», ergreifend reharmonisiert, wird dann noch getoppt von Chestnuts «Epilogue», sozusagen dem Abschiedsgeschenk des Sohns an seinen Vater.
Fazit
Cyrus Chestnuts Abschiedsalbum für seinen Vater ist in weiten Teilen wunderbar gelungen, abwechslungsreich, harmonisch spannend, gut arrangiert, jedoch mit genügend Freiraum für Soli.
Ein besonderes Kränzchen möchte ich dem Schlagzeuger Lewis Nash winden, der in jedem Moment Cyrus voll unterstützt, geschmackvolle Übergänge hinzaubert und musikalische Schlagzeugsoli bietet.
Anderseits darf nicht unerwähnt bleiben, dass zwar die Bassbegleitung in den meisten Stücken ok ist, die Bass-Soli hingegen zu oft unsauber intoniert sind und nie zu begeistern vermögen. Es ist leider nicht das erste Mal, dass mich Peter Washingtons Spiel nicht überzeugt. Schade, denn dies schmälert den musikalischen Gesamteindruck.
Trotzdem – und auch wegen des ausgezeichneten Klangs – ein schönes, vielseitiges und empfehlenswertes Album.