Qual der Vielfalt
Klassik-Neueinspielungen im Dilemma

Dies im Sinne von Hörerfahrung, verbunden mit Kenntnissen über unterschiedliche Musikarten, Stile, Interpretationen; dem Drang, genau hinzuhören, Klänge, Harmonien, Rhythmen zu geniessen und Entwicklungen innerhalb eines Musikstückes zu erkennen und zu verfolgen. Das Gesagte beschränkt sich nicht auf klassische Musik.
Wer heute im Geschäft mit klassischer Musik aktiv ist – sei es als Produzent, Betreiber eins Labels oder als Musiker – steht vor dem Dilemma, was er spielen oder aufnehmen und veröffentlichen soll. Da gibt es die sicheren Werte, Kompositionen der Klassik-Elite, wie Beethoven, Bach, Mozart, Haydn oder Brahms usw. Nur sind deren Werke nahezu alle schon mal eingespielt worden, manche hundertfach. Auch das Feld mit neuen Interpretationen historisch informierter Spielweise ist schon stark abgegrast. Und von der Klassik-Elite kommt nichts Neues nach – naheliegende Banalität. Auch mit neuen Tonträgern nochmals Geld zu generieren, ist seit dem Streaming-Zeitalter kaum mehr möglich.
Wo ist ein Ausweg?
Nun, es gibt viele unbekannte Komponisten und Werke aus den letzten 500 Jahren. Und da wäre noch die Avantgarde der zeitgenössischen Komponisten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Oder man erschliesst neue Kundensegmente, ausserhalb der Hardcore-Klassik-Community, die sämtliche 32 Beethoven-Klaviersonaten in mehreren Einspielungen besitzt. Betrachten wir mal, was so an neuen Alben bei Qobuz im Klassik-Bereich angeboten wird und wie attraktiv diese Alben für die unterschiedlichen Gruppen von Musikliebhabern sind.
Einordnung der Vielfalt
Klassik-Alben lassen sich nach diversen Kriterien gruppieren oder kategorisieren. Die hier angewandte Systematik orientiert sich einerseits daran, welche Hörer-Zielgruppe an einem Album vornehmlich interessiert sein könnte und andrerseits an der Hörgewohnheit eines Musikliebhabers: Interessentiefe, Hörerfahrung, Art des Hörens im Sinne von bewusst oder beiläufig wahrnehmend. Dabei dürfte es klar sein, dass niemand «Sortenrein» hört. Vielmehr hat man seine Schwerpunkte und hört immer wieder auch in andere Bereiche rein, auch genreübergreifend.
A) Die Hauptgruppe: thematische Alben
Die Kerngruppe umfasst thematisch homogene Alben, die einem oder zwei Komponisten oder einer Werkgattung gewidmet sind. Für diese Kategorie interessieren sich primär Hörer, die sich intensiv mit dem Thema befassen (= hohe Affinität für Klassik). Für den Programmentscheid haben die Akteure mehrere Varianten:
- Neuaufnahmen bekannter Werke als Neuinterpretation mit hochauflösender Aufnahmetechnik, teils historisch informiert.
- Einspielungen von Urfassungen bekannter, vom Komponisten überarbeiteter Werke.
- Rekonstruktion von unvollständigen Werken (z.B. Schumanns Zwickauer Symphonie)
- Als Gegenpool die Wiederauflage historischer Aufnahmen, die entweder unbearbeitet oder restauriert in Sammelboxen oder als reine Streaming-Alben verfügbar sind.
B) Die Leichtigkeit des Hörens
Diese Gruppe umfasst auf den ersten Blick undefinierbare Alben, die im Albumtitel nicht eine Werkgattung oder einen oder mehrere Komponisten listen. Dies sind Albentitel wie «Amour interdits», «George» oder «Exile». Dies im Gegensatz zu einem klar beschreibenden Inhalt als Albumtitel wie «Beethoven, Streichquartette Op. 18».
Typischerweise sind solche Alben themenbasierte Zusammenstellungen von Werken unterschiedlichster Komponisten und Epochen. Vielfach Einzelstücke aus grösseren Werksammlungen, kurze Stücke, einzelne Arien aus diversen Opern usw. Somit sind diverse Werke auf einem Album zusammengestellt. Klassische Komponisten haben bewusst auch leichtere Stücke für den Alltagsgebrauch komponiert: Mozart Divertimenti, Schubert Moments Musicaux, Beethoven Bagatellen, Mödlinger Tänze.
Man findet solche Kompilationen auch in der U-Musik z.B. «Kuschel Rock» Somit eher – aber nicht immer – Alben, die Stimmungen vermitteln, eingängige Titel (Charakterstücke) auch fürs beiläufige Hinhören. Mit solchen Alben lassen sich auch Hörer ansprechen, die nicht tief in der Klassik verankert sind, die ein genreübergreifendes Musikinteresse haben.
C) Die Unbekannten – Überraschung oder Langeweile
Eine grössere Gruppe sind Alben mit unbekannten oder kaum bekannten Komponisten. Ein exemplarisches Beispiel ist die beim Label Hyperion erscheinende Reihe «Das Romantische Klavierkonzert», die aktuell bei der 87. Ausgabe steht (Konzerte von Rubbra & Bliss). Eine wahre Fundgrube in dieser Kategorie ist das deutsche Label CPO (Classic Production Osnabrück). Insgesamt wurden bei CPO innerhalb von mehr als 30 Jahren über 2000 CDs veröffentlicht, die meisten davon Weltersteinspielungen.
In solchen Alben und Serien findet man beides: Trouvaillen, aber auch Stücke, bei denen man hört, warum sie in Vergessenheit gerieten. Eine Ecke, in der sich Sammler gerne umhören.
D) Die Zeitgenossen zwischen Lust und Verdruss
Und da wäre noch die kontroverseste Gruppe: die mit zeitgenössischer Klassik aus dem 20. Und 21. Jahrhundert, eine experimentelle Spielwiese, auf der man nahezu alles finden kann: absolut formloses und faszinierendes, Werke, die sich an etablierte kompositorische Regeln und Formensprache orientieren und andere, die jegliche Art von Tönen, Harmonien und Geräuschen oftmals chaotisch dem Hörer zumuten. Dünnes Eis: Hier schrecken viele Hörer zurück, weil das Risiko von Hörerlebnissen an der Grenze des Erträglichen durchaus real ist. Dennoch kann diese Gruppe viel bieten. Dank Streaming kann man neugierig reinhören und wertvolle Überraschungen erleben.
Aktuelle Beispiele

Die «kleine Nachtmusik» – zumindest der Titel und der Anfang des ersten Satzes – ist auch ausserhalb der Klassik-Hörerschaft bekannt. Und auch die weiteren Serenaden (Posthorn, Haffner) auf diesem Album sind innerhalb dieser Werkgattung Top-Titel. Qobuz listet über 40 Alben mit der Posthorn-Serenade auf, bei der Haffner-Serenade sieht es ähnlich aus.
Was kann das Münchener Kammerorchester hier noch bieten, was nicht schon vorhanden ist? Nun, die Interpretation der Münchener ist auf hohem Niveau, aber kein Neuzugang und keine Neuinterpretation dieser Werke. Dennoch lohnt sich diese Einspielung, dank eines äusserst präzisen, prägnanten Spiels und einer Aufnahmetechnik, die alle Orchesterstimmen sehr transparent auf der virtuellen Bühne aufreiht. Dieses Herausarbeiten und ausgewogene Hörbarmachen der Stimmen, die je nach Satz eine andere Gewichtung haben, machen den Reiz der Aufnahme aus. Kleinste Einwürfe, Phrasierungen oder Kontrapunkte der Nebenstimmen sind wahrnehmbar.
Harmonia Mundi, 31.1.2025, Aufnahme 24 Bit/192 kHz, Bavaria Musikstudios Juli 2023 und April, August 2024. Tonmeister Jean-Daniel Noir.

Amours interdites – Diverse Komponisten, David Kadouch

Solo- und Kammermusik-Pianist David Kadouch stellt die Frage, «was hat Musik zu sagen?». Mit dem persönlichen Programm auf diesem Album lädt David Kadouch ein, die Stimme in der Musik zu hören, Stimmen von beiden, von Mann und Frau. Somit wird die Stückwahl dieses Albums aus einer Programmidee abgeleitet. 10 Komponisten, 20 Stücke von meist eher kurzer Spieldauer sind typisch für diese Art von Alben. Stimmungen, Emotionen, eher eng gefasste Klangwelten sind hier charakteristisch und das Klavier mit seinen enormen Ausdrucksmöglichkeiten das ideale Instrument. Die Aufnahme des Mirare-Labels ist gelungen. Klanglich entlockt Kadouch dem Steinway-Flügel das ganze Ausdrucksspektrum, sein rundes Spiel lädt zum sinnlichen Hinhören ein.
Mirare, 24.1.2025, Aufnahme: 24 Bit/96 kHz, Théâtre Auditorium de Poitiers 23-26.9.2024, Tonmeister Martin Sauer.

War Silence – rare italienische Klavierkonzerte

Das «War Silence»-Album entlehnt seinen Namen von Cristian Carraras Stück «War Silence», komponiert 2015. Das Album erfüllt die Kriterien «unbekannte Komponisten» und «klassische Musik aus dem 20. Und 21. Jahrhundert – Spannweite von 1900 bis 2015». Mit Werken aus den Jahren 1900, 1939/41, 1960 und 2015 wird ein Spannungsbogen geschaffen, welche ein immer weiteres Loslösen von der Formsprache der vorhergehenden zwei Jahrhunderten aufzeigt.
Trotzdem orientiert sich Silvio Omizzolos Klavierkonzert (1960) an der klassischen Dreisätzigkeit mit einem langsamen Mittelsatz. Dennoch zeigt die Tonalität des Konzerts kontemporäre Züge mit ungewohnten Harmonien, die aber nie ins Absurde abdriften. Die Stimmungen in «War Silence» sind thematisch gekonnt aufgebaut. Sie kippen innerhalb eines Satzes und nicht unerwartet zwischen den Sätzen. Der Bogen spannt sich von dunklen, furchterregenden Momenten bis hin zu wogenden, Hoffnung und Trost spendenden Passagen. Ein interessantes Album!
Hyperion 31.1.2025, Aufnahme 24 Bit/192 kHz, Henry Wood Hall, London, 26/27. 3. 2022, Tonmeister Matteo Costa.

Dvořák – Nouveau Monde 2.0 (= elektronische Klassik)

Dvořáks 9. Symphonie «Aus der neuen Welt», komponiert während seines Aufenthaltes in Amerika, ist ein eindrückliches Werk mit vielen Anlehnungen an traditionelle Musik aus den USA und seiner Heimat Tschechien – ein beliebtes Stück im Klassik-Umfeld. Was nun die 2.0-Version dieser Symphonie soll, erschliesst sich nur schwerlich. Ist es der Drang nach einer Interpretation, die das bisherige komplettiert, provoziert, eine neue Sicht auf das Werk öffnet? Das Begleitheft zum Album erläutert:
«Faszinierende elektroakustische Neuinterpretation der Sinfonie «Aus der Neuen Welt»! Der Wunsch, die Musik zu demokratisieren, motiviert das Orchestre de Chambre de Toulouse mit seinem Dirigent Gilles Colliard Antonin Dvořáks Meisterwerk erneut aufzulegen. Einhundertdreissig Jahre später die Wiedergeburt dieser Musik in einer absolut originellen und überraschenden Form».
Man kann über diese Version diskutieren, sie mag auch Anhänger finden – wenn auch kaum viele. Aus Sicht des Autors wurde Dvořáks Werk dermassen entstellt, dass man kaum von einem Hörgenuss sprechen kann. Die komponierte Mehrstimmigkeit, die unterschiedlichen Register, wurden auf E- und Akustik-Streicher sowie Synthesizer (E-Piano) reduziert. Auch Aufnahmetechnisch überzeugt das Album nicht. Die Phasenverschiebungen sind störend, die Störgeräusche und elektronischen Effekte irritieren, das gesamte Klangbild ist eher schrill und akustisch dicht.
Fazit: Ein Album, das wohl auch aufgrund der gesättigten Marksituation so entstanden ist.
Klarthe Records, 6.12.2024, Aufnahme 24 Bit/96 kHz, Studio Elixir, 23/26 10.2021, Tonmeister Stéphane Ley.

Fazit
Viele Märkte sind heute gesättigt. Aber auch in gesättigten Märkten wird konsumiert, jedoch wird es für die Anbieter schwieriger, sich im Wettbewerb zu behaupten. Mit Innovation, Andersartigkeit, dem Eröffnen neuer Perspektiven oder Erschliessen von neuen Marktsegmenten kann man als Unternehmen eine wirtschaftlich tragfähige Basis finden. Dies gilt auch für die Klassik-Branche. Dass da mal ein Experiment nicht auf fruchtbaren Boden stösst, ist keine Schande – es sind die guten Projekte, die tragen. Und davon gibt es nach wie vor zahlreiche. Freuen wir uns auf den nächsten Monat mit Neuheiten. Dank Streaming kann man ja genüsslich das Angebot durchforsten.
Onlinelink:
https://avguide.ch/magazin/klassik-neueinspielungen-im-dilemma-qual-der-vielfalt