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Nagras Gral

Wie man in Romanel HiFi-Geschichte schreibt.

Publiziert am 28. September 2016 - Christian Wenger
Das legendäre Modulometer von Nagra.Das legendäre Modulometer von Nagra.

Nagra ist Schweizer Audio Urgestein. Der Inbegriff von feinmechanischer Präzision. Tonband-Aufnahmegeräte irrwitziger Qualität und bequemer Tragbarkeit im Gepäck zahlloser Reporter aller Radiostationen der Welt. Arbeitsgeräte der Film-Crews von Hollywood bis Cinecittà.

Nur... braucht man sie heute nicht mehr. Alles ist vergangen. Nicht vergessen allerdings, denn die Bandmaschinen haben die Zeit überdauert, gruften in Sammlungen und bei Liebhabern. Sie erzielen hohe Sammlerpreise und werden heute noch gewartet und repariert.

Was steckt heute hinter Nagra? Ist es, wie oft erlebt, einfach eine bekannte, wiederverwendete Marke? Kann man aus dem Knowhow der alten Bandmaschinen noch etwas verwenden für die digitale Zukunft?

Audio Technology Switzerland wurde 2011 aus der Kudelski-Gruppe herausgelöst und funktioniert seitdem autonom und zukunftsgerichtet. Da wird nicht gewürfelt und nicht geblufft. Die 3 Sparten Recorder, High End und Security sind im Wachstum für Anwendungen, wo es keine Kompromisse gibt.

Design, Produktion, Logistik, Marketing, alles unter einem Dach in der Nähe von Lausanne in einem Quartier mit schmucken Häuschen und Villen.

Das Domizil von Audio Technology Switzerland wurde 2011 bezogen.Das Domizil von Audio Technology Switzerland wurde 2011 bezogen.

Notre-Dame de Paris

Mit Matthieu Latour, dem Marketing Direktor, sprach Christian Wenger von avguide.ch.Mit Matthieu Latour, dem Marketing Direktor, sprach Christian Wenger von avguide.ch.

avguide.ch: Können Sie uns ein wenig über Nagra erzählen?

Matthieu Latour: Stephane Kudelski entwickelte als Student um 1950 ein Band-Aufnahmegerät, ursprünglich für Sprachaufnahmen vorgesehen: das spätere Nagra I. Es war klein, wurde mit einem Federantrieb von Thorens betrieben und arbeitete elektronisch mit Röhren. Er beteiligte sich an einem Wettbewerb in Paris und machte ein Interview mit dem damaligen Glöckner von Notre-Dame im Glockenturm.

Er wurde gefragt, wie er das bewerkstelligt hätte, nachdem man das Band gehört hatte. Er präsentierte sein selbst gebautes Aufnahmegerät. Es war viel kleiner und leichter als die damals üblichen Bandmaschinen. Er gewann den Wettbewerb und Radio France bestellte viele Geräte. Die Kompaktheit und Portabilität war eine Sensation und erweiterte die Möglichkeiten der Reportage-Teams.

Daraufhin gründete er das Unternehmen und verkaufte das Gerät mit Erfolg. Dann kamen das Nagra 2 und 1957 das Nagra 3. Es war transistorisiert, kompakter, rigider und extrem zuverlässig, geeignet für den harten Arbeitsalltag. Es war der Durchbruch. Das Nagra 3 veränderte die Medientechnik völlig. Es wurde für Film eingesetzt, insbesondere in Frankreich (Film noir) und den USA. Im Broadcasting wurden die Nachrichten aktueller, weil man mit den Geräten schneller vor Ort war.

Nagra entwickelte und produzierte immer für diesen Markt professioneller Anwendungen in Verbindung mit mobilen Aufnahme-Situationen. Dazu mit einer enormen Fertigungstiefe ausgehend vom Rohmaterial für alle mechanischen Komponenten. Stephane Kudelski hatte auch nicht die Absicht, die Preise zu demokratisieren, wie es Studer mit der Zweitmarke Revox machte. Man konzentrierte sich auf maximale Qualität und höchste Zuverlässigkeit und Langlebigkeit.

Nagra II: Das zweite portable Tonbandgerät der Welt, nach dem Nagra I.Nagra II: Das zweite portable Tonbandgerät der Welt, nach dem Nagra I.

Der Schritt zu High-End-Audio für private Musikhörer

Die PL-P-Röhrenvorstufe von 1997 stand am Anfang der High-End-Audiogeräte von Nagra.Die PL-P-Röhrenvorstufe von 1997 stand am Anfang der High-End-Audiogeräte von Nagra.

avguide.ch: Wie kam es dann zu High-End-Audio?

Latour: So um 1995 kam eine Kundenanfrage für ein Nagra-IV-S-Tonbandgerät mit einem Phono-Eingang anstelle der üblichen Mikrophon-Eingänge, offensichtlich für Phonoaufnahmen. Das war nicht schwierig zu realisieren und stand dann Pate für die Idee, Nagra-Geräte für audiophile Musikhörer mit höchsten Qualitätsansprüchen zu lancieren.

Der Durchbruch kam mit den CD-Playern. Das mechanische Knowhow bot sich an. Das ging bis 2011, als man dann die Audio-Sparte auslagerte.

avguide.ch: Was waren die Gründe?

Latour: Die Audio-Sparte war im Portfolio der Kudelski-Gruppe ein wenig verloren, weshalb man entschied, sie unabhängig weiterzuführen. Gleichsam hing die Familie an den Audioprodukten, mit denen ja alles begonnen hatte. Das führte auch zur Standortverlagerung nach Romanel mit 35 Mitarbeitenden. Unterteilt in Professional Recording, High End und Security. Heute ist High End der wichtigste Geschäftszweig.

avguide.ch: Was für Produkte findet man in der Sparte Security?

Latour: Das können wir natürlich nicht kommunizieren. Das hat es mit Security so an sich. Der CIA hätte da auch kein Interesse daran. Die "Bad Guys" schon.

avguide.ch: Wie arbeiten Sie hier am neuen Standort seit der Autonomie von Kudelski Group?

Latour: Ein paar Dinge haben sich verändert. Früher entwickelten wir alles messtechnisch perfekt mit vielen Tests. Darauf legen wir immer noch Wert, aber wir hören uns alles viel intensiver an. Wir haben auch ein Hörer-Panel, das regelmässig einbezogen wird. Wir entwickeln heute iterativ mit vielen Schlaufen: entwickeln, messen, hören, verbessern u.s.w. Das ist der Grund für den wachsenden Erfolg unserer neuen Produkte. Man kann die Spezifikation zwar ständig verbessern, aber manchmal ist das nicht zum Vorteil der Emotionalität beim Hören.

Die Veränderungen kamen mit unserem CEO. Er war in der kritischen Phase für die Entwicklung der Kaffeemaschinen bei Nespresso verantwortlich und brachte die Aspekte von Geschmack, Genuss etc. ein. Wir hörten auch früher schon, aber weniger intensiv.

Die Roadmap von Nagra

INT steht für integrated. Der Vollverstärker der Classic-Linie.INT steht für integrated. Der Vollverstärker der Classic-Linie.

avguide.ch: In welche Richtungen entwickeln Sie die Produktelinien von Nagra?

Latour: Wir haben die bisherigen Produkte in die sogenannte Classic-Linie zusammengefasst und befassen uns nun mit der neuen HD-Linie. Sie zeichnen sich durch ihre Kompromisslosigkeit aus, sind ein Statement und orientieren sich nicht mehr an den früheren Regeln der Kompaktheit. Sie dürfen grösser und geräumiger sein, ohne zu übertreiben. Damit erschliessen sich mehr Möglichkeiten. Wir benötigen z. B. grössere und auch teurere Komponenten. Das ist nur mit grösseren Geräten möglich und zu höheren Preisen.

avguide.ch: Sie beabsichtigen aber nicht, die Richtung hin zu sehr grossen Geräten, wie üblich in den USA, zu verfolgen?

Latour: Nein, denn der Markt geht wieder in Richtung kleinerer Gehäuse. Wir hörten lange Zeit aus den USA, dass unsere Geräte zu klein sind. Das kommt ja von der Portabilität der Aufnahmegeräte. Das ändert sich jetzt aber mehr und mehr.

avguide.ch: Kleinere Geräte wirken unauffälliger und auch wertvoller.

Latour: Devialet hat in dieser Beziehung wertvolle Arbeit geleistet mit relativ kleinen, hochwertigen Geräten, die das Interesse an gutem HiFi wieder ins Bewusstsein der Menschen transportiert. Viele Menschen hatten HiFi vor 30 Jahren.

avguide.ch: Hat der Markenname Nagra eine Bedeutung?

Latour: Stephane Kudelski kam aus Polen. Auf Polnisch bedeutet das: Es wird aufgenommen. Er wollte seinen Namen nicht auf dem Produkt, und so kam es zu der Marke Nagra. In Polen ist man heute besonders stolz auf Nagra, wie der dortige Distributor kürzlich bekräftigte.

Der extrem aufwendige HD-DAC (DA-Wandler).Der extrem aufwendige HD-DAC (DA-Wandler).

Technologie-Hinterlassenschaft

Das digitale Aufnahmegerät Nagra Seven ist einer der Nachfahren der Tonabandgeräte.Das digitale Aufnahmegerät Nagra Seven ist einer der Nachfahren der Tonabandgeräte.

avguide.ch: Nagra begann mit Tonbandgeräten mit komplexer Mechanik und höchster Präzision. Was ist von dieser Ur-Technologie eigentlich noch übrig, abgesehen vom Modulometer?

Latour: Ein wichtiger Aspekt ist "low consumption": geringer Leistungsbedarf. Vor allem natürlich bei den digitalen Aufnahmegeräten. Es ist mit der heute verfügbaren Technologie nicht so schwierig, hohe Qualität zu erzielen, aber kombiniert mit geringem Leistungsbedarf ist das schwierig. Dann auch das Knowhow, kompakte Geräte zu bauen. Wir denken sehr dreidimensional. Die Nutzung des verfügbaren Raums ist hoch. Bei den CD-Playern spielt exzellente Mechanik natürlich eine entscheidende Rolle.

Nagra war der erste Schweizer Hersteller mit CNC-gefrästen Gehäusen, und wir waren die Ersten, die SMD-Technik einsetzten. Das mechanische Design hat Tradition bei uns. Wir machen auch alle Leiterplatten selbst, und wir sind gut darin. Wir machen das Leiterplatten-Design auch von Hand. Die Leiterbahnen und die Platzierung der Komponenten erfolgt von Hand, und das ist sehr wichtig für die Klangqualität, wenn man die Erfahrung hat.

Wir haben grosse Erfahrung mit Audio-Transformern und stellen die meisten selbst her. Das kommt noch von den Tonköpfen der Bandmaschinen, damals entscheidendes Knowhow von Nagra. Leistungstransformatoren werden teilweise extern beschafft, aber nicht alle.

Unsere Mitarbeitenden arbeiten oft viele Jahre hier, auch bis zur Pension und manchmal mit Teilzeitpensum darüber hinaus. Das Knowhow bleibt im Unternehmen.

Dazu gibt es bei uns diesen Respekt gegenüber den Künstlern, den Musikern und den Tontechnikern. Wir engagieren uns im Aufnahmebereich am Montreux Jazz Festival, nur um ein Beispiel zu nennen. Das hat Tradition. Stephane Kudelski spielte jeden Tag Musik und hörte mit grossen Studiolautsprechern in seinem Büro. Er hat viele Musiker als Freunde. Wir möchten so nahe wie möglich an der Musik dran sein.

avguide.ch: Die Musiker haben oft eine andere Wahrnehmung als die Musikhörer.

Latour: Ja, sie konzentrieren sich sehr stark auf ihr Instrument, haben aber ein untrügliches Gefühl für die Authentizität, dafür, was sie durch Musik empfinden. Es ist immer wieder interessant, zusammen mit Musikern Musik zu hören, aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmungen. Auch bekannte Musiker sind oft erstaunt, auf welchem Niveau man Musikaufnahmen heute hören kann. Es ist erstaunlich, dass gerade die Leute, die das Material beisteuern, davon wenig wissen – trotz der Technik in den Aufnahmestudios.

Analog, digital, Röhren, Transistoren

Hochwertigste Kondensatoren beim HD-DAC.Hochwertigste Kondensatoren beim HD-DAC.

avguide.ch: Was halten Sie von hochauflösenden Digitalformaten?

Latour: QUOBUZ als Beispiel verlangt oft das Hi-Res-Master, weil sie das bei den käuflichen Downloads promoten. Wenn man sich in die höhere Qualität mit 24/96 oder mehr einfühlt, dann bemerkt man die höhere Intensität des Musikerlebnisses im Vergleich zu 44.1 oder 48 kHz. Man nimmt das erst dann wahr, wenn man sich wirklich damit auseinandersetzt. Wir erleben das immer wieder bei den Hörtests. Ich bin heute begeistert von 2-fach-DSD, auch wenn wenige Aufnahmegeräte zur Verfügung stehen.

avguide.ch: Als die Aufnahmetechnik von analog zu digital überging, war Nagra ja sehr betroffen. Vor allem als man von den Bändern auf die Speicherkarten wechselte. Das ganze mechanische Knowhow wurde praktisch überflüssig. Was ging da alles ab?

Latour: Zunächst hatte das einen negativen Einfluss auf das Geschäft. Das Nagra-D-Aufnahmegerät (digital) von 1991, ein Bandgerät, kann heute qualitativ noch mithalten, so gut war es bereits damals. Aber es war viel grösser als die analogen Bandgeräte. Dann kam die Flash Card an die Stelle der Bänder. Die Datenträger waren teuer und änderten sich dauernd. Die Entwicklung wurde sehr dynamisch und unberechenbar.

avguide.ch: Wann verwendet man für Nagra Röhren, wann Transistoren?

Latour: Wir verwenden immer die beste Komponente für die zu erfüllende Funktion. Das hat bei uns nichts mit Religion zu tun. Mit Röhren lassen sich zum Teil bessere Spezifikationen erzielen als mit Transistoren. Dann werden sie eingesetzt, wenn das aus Sicht von Kosten und Preis möglich ist. Es gibt Röhren mit militärischer Spezifikation, mit denen sich stratosphärische Resultate erzielen lassen. Grundsätzlich sind Röhren technisch den Transistoren überlegen. In Verbindung mit extrem hochwertigen Kondensatoren und anderen Komponenten, welche die Funktion dann massiv verteuern. Das können wir nicht immer und überall realisieren.

avguide.ch: Wie verteilt sich Ihr Geschäft nach Produkt und Geografie?

Latour: Das High-End-Geschäft macht 50% aus und wächst rapide. Der grösste Markt ist heute China und Hongkong, dann die USA. Die Schweiz ist auch sehr wichtig.

avguide.ch: Was halten Sie von Streaming?

Latour: MQA und so?

avguide.ch: Die mögen Sie wohl nicht, die versuchen, in Ihren Garten zu treten.

Latour: Genau! Nun, generell finde ich Streaming gut, weil es das Musikhören einfach fördert. Diesbezüglich ist auch MP3 völlig ok. Nagra wird vermutlich keine Streamingeräte bauen. Das ist zu kurzlebig und wir überlassen die Computer-Seite anderen. Wir beginnen also beim DA-Wandler.

Vielen Dank für unser Gespräch!

Verehren und vererben

Es gibt zwei Hörräume im Gebäude. Der kleinere dient spezifischen Messungen und der grosse Hörraum ist eine perfekte Akustik. Das bedeutet, dass man die Akustik auf der Aufnahme nahezu perfekt hören kann. Der Raum hat keine eigene akustische Signatur. Daher fühlt man sich etwas unwohl, bis dass Musik gespielt wird. Dann wird es ein perfektes Erlebnis.

Alles ist auf den Punkt getrimmt. Es gibt keinen Interpretationsspielraum. Die Musiker stehen dort, wo sie bei der Aufnahme waren. Die Stimmung ist spürbar und mitreissend. Die totale Transparenz ist echt, wahrhaft echt. Man hört die Wahrheit des Geschehens.

Der grosse Hörraum. Der grosse Hörraum.

Nagra-Geräte sind für die Ewigkeit gebaut. Es gibt wohl kaum einen Hersteller in der Welt der High-End-Audiogeräte, der das überzeugender nachweisen könnte. Das Ersatzteillager beinhaltet Spezialbauteile bis zurück in die 1970er-Jahre. Die Tonbandgeräte werden nicht selten nach 50 Jahren für die kommenden 50 Jahre fit gemacht. Wer so etwas kauft, denkt an seine Nachkommen.

Die glorreiche Vergangenheit bildet ein überzeugendes Fundament für die Zukunft des Unternehmens und für die Kunden. Das ist eine dreidimensionale Qualitätsdimension. Sie ist fraglos zur Kenntnis zu nehmen.

Onlinelink:
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