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Publikationsdatum
13. Juni 2023
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Bei vielen Audiophilen nimmt die Hörfähigkeit umgekehrt proportional zum Anstieg der Kaufkraft ab. Endlich können sie sich die High-End-Geräte kaufen, vergleichbar mit jenen, von denen sie träumten, als sie noch wirklich gut hörten. Viele tun das aber nicht. Kite-Surfen ist auch nichts für Rentner. Wozu die Ausrüstung? Die Branche steht also vor dem Dilemma, dass die endlich kaufkräftigen Kunden nicht kauflustig genug sind, weil sie die Qualität gar nicht mehr wertschätzen können. Was tun?

Umerziehung

Die Branche muss diesen freudlosen Gesellen eintrichtern, dass das alles nicht stimmt mit den 12 kHz, die man mit 60 gerade noch hört. Oder vielleicht sind es noch knapp 14 kHz, oder die 12 kHz gelten für 70 oder was auch immer. Es stimmt zwar, aber höhere Frequenzen haben auch einen Einfluss auf tiefere Frequenzen. So einfach ist das.

Die Branche kann die alte Kamelle von der «Hörerfahrung» auch gleich mit in die Tonne treten: diese Wohlfühl-Theorie für alte Männer. Je öfter sie im Leben Konzerte besucht haben, desto besser kann ihr an musikalischem Verständnis gereiftes Gehirn zum Hörgenuss beitragen ... «flöt flöt säusel».

Nicht, dass die Theorie nicht Hand und Fuss hätte, nein, aber sie trifft auf viele gar nicht zu. Viele sind ja gar nicht so oft ins Konzert gegangen, wie sie immer behaupten und die Rockkonzerte verursachen eher Hörschäden als Hörerfahrung.

Die Branche braucht eine stärkere Medizin, denn sie muss überzeugend vermitteln:

Dass 20 kHz nicht mehr genügen
Dass die HiFi-Anlage der Kunden 50 kHz «durchwinken» muss
Dass alle den Unterschied zu hören glauben, auch mit 65, wenn sie sich einen Teil des BVG-Kapitals auszahlen lassen.

Das ist starker Tobak, eine echte Herausforderung, aber bei der Vermittlung eilen der Branche drei glückliche Umstände zu Hilfe:

1. Niemand wird sich darüber Gedanken machen, ob die Mikrofone bei der Aufnahme 50 kHz «durchwinkten». Die Aufnahmeseite interessiert nach wie vor keine Sau. Die nehmen ja hundsgewöhnliche Kabel für alles, und überhaupt.

2. Den Unterschied werden sie alle bestimmt hören. Dafür ist er ja da. Einen Klangunterschied nicht zu hören, ist politisch unkorrekt. Das macht man einfach nicht.

3. Blindtests sind viel zu aufwändig. Hände weg davon. Wir sind transparent und fummeln nicht heimlich an den Kabeln herum. Bei uns weiss man, woran man ist. Die Klangunterschiede werden angekündigt.

Das macht die Sache etwas einfacher, aber die Branche braucht trotzdem starke Argumente. Ein Riesending muss her. Das Naheliegendste ist gerade die Sache mit dem Ultraschall.

Ultraschall – der neue Mythos

Natürlich wissen alle, was Ultraschall ist. Spätestens, seit sie mit diesen billigen Lautsprecher-Kästchen versuchten, im Garten Füchse oder Katzen zu vertreiben. Relativ neu ist die Erkenntnis, dass Ultraschall-Anteile weit oberhalb des Oberwellen-Spektrums von Instrumenten und Stimmen in Erscheinung treten, und zwar präzise messbar oberhalb von 20 kHz. Sie sind also Teil des Klangs. Nicht, dass es viel wäre, aber eben messbar und auch nicht zufällig.

Zudem erlaubt eine Sampling-Frequenz von 96 kHz (Hi-Res) bereits die digitale Erfassung und Wiedergabe solcher Frequenzen. Damit ist der Weg frei für einen neuen Mythos, für ein ganz neues Fass, dass man öffnen kann.

Und wenn sie dann anbeissen, dann geht es nur noch darum, die eingrenzenden Komponenten in der High-End-Anlage aufzuspüren und auszumerzen. Zum Beispiel die Lautsprecher mit Hochtönern, die bereits bei 25 kHz schlapp machen und Verstärker, die von dort an auch nicht mehr können – sprich, so einiges, was ihnen bislang lieb und teuer war. Weg damit!

So stellt sich das die Branche vielleicht vor.

Ende der Satire

Es mag etwas dran sein mit dem Ultraschall. Nicht nur Schall und Rauch also. Dass das Herausfiltern hoher Frequenzen die Hüllkurve im definitiv hörbaren Bereich ein wenig verändert, ist bemerkenswert. Es gibt auch vertiefte Erkenntnisse über die psychoakustische Wirkung, die aufhorchen lassen, an denen etwas dran sein könnte. Man nennt es Hypersonic Effekt:

avguide.ch meint

Laut ChatGPT ist der Hypersonic-Effekt ein interessantes Forschungsgebiet, das untersucht, wie nicht hörbare, hochfrequente Klänge möglicherweise das Gehirn und den Körper beeinflussen können, obwohl sie nicht bewusst wahrgenommen werden. Weitere Studien sind allerdings erforderlich, um die genauen Auswirkungen und potenziellen Anwendungen dieser Erkenntnisse zu klären. Es gibt auch unterschiedliche Meinungen und Debatten über die Relevanz dieser Effekte in normalen Hörsituationen oder in der Musikwiedergabe. Auch die Auswirkungen von High-Resolution-Audio sind Gegenstand von Diskussionen und Debatten. Die meisten wissenschaftlichen Studien haben jedoch gezeigt, dass die Hörfähigkeit im Allgemeinen auf den hörbaren Frequenzbereich bis etwa 20 kHz beschränkt ist.

Titelblatt (Auszug) aus einer japanischen Studie über den Hypersonic-Effekt aus dem Jahr 1993(!).Titelblatt (Auszug) aus einer japanischen Studie über den Hypersonic-Effekt aus dem Jahr 1993(!).

Dass die Erweiterung der Musikwiedergabe in Richtung dieser sehr hohen Frequenzanteile im Endeffekt eine hörbar bessere Qualität bewirken wird, ist zurzeit nicht mehr als Wunschdenken der Audio-Branche, auf der Suche nach einem neuen, gut und schnell verwertbaren Mythos. Man kann gut damit leben, dass es «unterschiedliche Meinungen und Debatten über die Relevanz» gibt. Das war für den Umsatz schon immer besser als klare Fakten.

Apropos klare Fakten: Es wird vielleicht auch daran scheitern, woran es bisher scheiterte: Es wird nicht möglich sein, Unterschiede tatsächlich herauszuhören, unvoreingenommen und eindeutig reproduzierbar. Es wird nicht möglich sein, eine Erkenntnis herauszuformen, welche die hochklassige Musikwiedergabe eindeutig weiterbringt. Es werden einmal mehr bloss Vorurteile und kauffördernde Verhaltensweisen provoziert.

Einmal mehr wird dann alles gleich wieder mit dem Argument «Hörgeschmack» oder «Individualität des Hörerlebnisses» eingeebnet, damit es keine Verlierer gibt.

So stellen wir uns das vielleicht vor.